Mehrwert und Melancholie
Stefan
Howald
Zum neuen
Band des Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus
Von
Maschinerie bis Mitbestimmung reicht der soeben ausgelieferte Band 9/I. Das
grosse «Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus» (HKWM) ist damit gut
über die Hälfte hinaus gediehen. Der neuste Band führt mitten in zentrale
Diskussionen aus der Geschichte des Marxismus. Etwa mit dem Stichwort
Materialismus. Gemäss dem globalen Anspruch wird der Materialismus aufgefächert
und in mehreren Beiträgen behandelt, vom altindischen über den geographischen
und den neuen feministischen bis zum praktisch-dialektischen. Macht insgesamt
vierzig Seiten dichter Erörterungen. Eingerahmt von weiteren Artikeln zu
Stichwörtern wie Materialanalysen oder materialistische Bibellektüre. Dabei
bewährt sich einmal mehr das grundsätzliche Verfahren, zuerst die Herkunft und
Bedeutung innerhalb der marxistischen Tradition zu rekonstruieren und dann auf
aktuelle Diskussionen und Probleme einzugehen.
Man kann in
diesem grandiosen Wörterbuch auf mehrfache Weise lesen. Man kann sich gezielt
und zweckgebunden auf einzelne Stichworte stürzen. Man mag müssig darin
blättern und bei überraschenden Stichwörtern hängen bleiben. Denn der
vorliegende Band handelt nicht nur über die Meinungsfreiheit, sondern ebenso
über die Mätresse als soziale Bewegungsform, oder es wird versucht, eine linke Melancholie
zu rekonstruieren. Man kann auch einzelnen AutorInnen folgen, etwa dem
französischen Philosophen Etienne Balibar. Balibar, einst Mitstreiter von Louis
Althusser, hat sich seit langem mit vielfältigen Publikationen und Aktivitäten
zu Themen wie Nationalismus und Europa oder zu Grenzen und BürgerInnenrechten
profiliert. Im neusten HKWM-Band schreibt er sowohl über Mehrwert als auch über
Menschenrechte. Womit zugleich ein Spektrum des Wörterbuchs aufgespannt ist –
ein genuiner marxistischer Begriff, und einer, mit dem man sich
wenn nicht in der marxistischen Tradition, so doch in der kommunistischen
Praxis eher schwer getan hat.
Mehrwert
Bleiben wir
beim Stichwort Mehrwert und dem dazu gehörigen, oder darunter liegenden, der
Mehrarbeit. Mehrwert, hält Balibar fest, ist zweifellos zentral für Marxens
Kritik der politischen Ökonomie. Aber der erkenntnistheoretische Stellenwert
ist durchaus schillernd. Einerseits gilt der Mehrwert als ein Bewegungsmotor
der realen kapitalistischen Produktionsweise. Andererseits ist er ein durch
Abstraktion gewonnenes Grundelement eines Strukturmodells, das in der konkreten
Analyse nur sehr vermittelt brauchbar ist.
Marx
beansprucht ja auf dem Hintergrund der Arbeitswertlehre, jenen Antrieb entdeckt
zu haben, der den Kapitalismus zu einem ebenso produktiven wie zerstörerischen
Wirtschaftssystem macht: Jenseits bürgerlicher Vorstellungen vom Geld
produzierenden Geld oder vom Genie des Kapitalisten ist es die Arbeitskraft,
die mehr Wert schafft – eben Mehrwert schafft –, als sie zu ihrer eigenen
Reproduktion braucht. Damit wird, wie Balibar formuliert, «der Standpunkt des
Kapitals durch den Standpunkt der Arbeit ersetzt und die Ausbeutung der
Arbeitskraft als Quelle der Kapitalakkumulation sichtbar gemacht».[1] Als
Gegengewicht zu flockigen Bekundungen zum Marx-Jubiläum über Marxens
prophetische Kraft bezüglich der Globalisierung oder seine emphatische Kraft
als Philosoph der Entfremdung habe ich kürzlich in der WOZ versucht, diese
grundsätzliche Stossrichtung und weiterhin aktuelle Bedeutung von Marxens
Kritik der politischen Ökonomie zu rekonstruieren.[2] Der in schamlos
didaktischer Absicht und Form unternommene Versuch ist auf mässiges Interesse,
ja gelindes Unverständnis gestossen. Denn es bleibt eine gedankliche Zumutung und
eine praktische Herausforderung, dieses Erklärungsmodell in eine
handlungsanleitende Analyse umzusetzen.
Etienne
Balibars Beitrag im HKWM weist auf entsprechende Probleme hin. So stellt sich
die Frage, wie Mehrwert überhaupt gemessen werden kann. Tauschwert als
vergegenständlichte Arbeitskraft taucht im realen Marktgeschehen nur in der
Form von Warenpreisen auf, die durch wechselnde Faktoren vom darin steckenden
Wert abweichen. Eine Mehrwertberechnung kann nur durch die Preisform hindurch
vorgenommen werden; Mehrwert wird in der bürgerlichen Ertragsrechnung
entsprechend als Profit verbucht, womit, ideologisch willkommen, die Herkunft
aus der Arbeit verschleiert wird. Zugleich muss der industrielle Kapitalist
seinen Profit mit dem Grundeigentümer (via die Grundrente) und dem
geldverleihenden Kapitalisten (via den Kapitalzins) teilen. Der ökonomische
Mechanismus, wonach nur die Arbeitskraft Wert (und Mehrwert) erzeugt, wird
durch politische Machtverhältnisse überlagert. Das Kapital mag ökonomisch
gesehen keinen Tauschwert schaffen, doch in der kapitalistischen
Produktionsweise kommt ihm die funktionale Macht zu, sich Wert anzueignen, als
ob es diesen geschaffen hätte.
Damit
stellen sich weit reichende Fragen, welche Arbeit denn überhaupt wertschöpfend
im kapitalistischen Sinn sei? Produzieren Händler oder
Bankerinnen auch Tauschwert, oder verteilen sie bloss die anderswo geschaffenen
Werte? Wie sieht es mit den Dienstleistungen aus, die mittlerweile zwei Drittel
moderner Wirtschaften ausmachen?
Schafft eine
App neue Werte?
Angesichts
solcher Schwierigkeiten wird der Begriff des Mehrwerts samt Arbeitswertlehre
öfters auch von linker Seite aus ignoriert oder sogar abgelehnt. Aber er
scheint mir nach wie vor sinnvoll, weil er ein Motiv und einen Antrieb für die
herrschende Produktionsweise bezeichnet. Insofern bleibt er
forschungsanleitend. Mit den bei der konkreten Analyse erwachsenden Problemen
hat sich Marx immer detailliert und differenziert herumgeschlagen. Zwei Artikel
zum Stichwort Mehrarbeit im HKWM vertiefen die entsprechende Thematik. Mehrwert
ist ja der wertmässige Ausdruck der Mehrarbeit, das heisst jener Arbeit, die
abgeliefert wird, nachdem die zur Reproduktion der Arbeitskraft «notwendige
Arbeit» geleistet worden ist. Das Verhältnis von notwendiger Arbeit und
überschüssiger Mehrarbeit ist – neben der Höhe des Lohns – offensichtlich vom
Stand der Produktionskräfte abhängig. Dazu zählen auch immaterielle Elemente
wie die Organisation der Produktionsprozesse. Marx hat zum Beispiel bereits das
zu seinen Lebzeiten sich stark entwickelnde Kreditwesen analysiert. Die neuen
Technologien, Digitalisierung und Finanzialisierung, stellen solche Fragen
nochmals verschärft.
Schafft zum
Beispiel die Entwicklung einer App Tauschwerte im marxschen Sinn? Es gibt linke
Versuche, die Wertschöpfung im Internet zu bestimmen. So ist der Begriff der
Informationsrente geprägt worden,[3] parallel zur
marxschen Grund- oder Bodenrente – das ist die Rente, die jemand erhält, der
Boden besitzt, ohne ihn direkt zu bearbeiten (wie Bauern oder das
Landproletariat) oder organisatorische Funktionen wahrzunehmen (wie Pächter
oder Aufseher), also als reine Abgeltung für den Besitz. Bodenrente wird nach
marxschem Verständnis aufgrund einer politischen Machtkonstellation
gesellschaftlich vom Lohn und/oder vom Profit abgezogen (somit zumeist wieder
vom Lohn). Gemäss dem analytischen Ansatz der Informationsrente würden zum
Beispiel Internetfirmen – also nicht Apple mit seiner Hard- und Software,
sondern Facebook, das eine einmal geschaffene Infrastruktur mit geringem
arbeitstechnischen Aufwand zur Verfügung stellt – sich durch ihre Marktmacht
einen Anteil am gesamtgesellschaftlichen Profit aneignen können, obwohl sie
keinen Wert im ökonomischen Sinn produzieren.
Klar ist
zudem, dass der Profit durch die Finanzialisierung der Wirtschaft immer mehr
verschachtelt, verschoben und verteilt wird. Auch dem Alltagsverstand leuchtet
ein, dass ein Hedge Fund keinerlei Wert schafft, sondern sich nur den Profit
anderer Wirtschaftssektoren aneignet. In letzter Zeit hat vor allem Thomas
Piketty empirisch gezeigt, wie die obszönen Profite des Finanzsektors auf
Kosten der anderen Wirtschaftsbereiche gehen.[4] Auch
die – nicht unproblematische – Entgegensetzung von Finanz- und realer
Wirtschaft reagiert intuitiv auf dieses Problem.
Was ist
produktiv?
Neben
Positionen, welche die Berechenbarkeit des Mehrwerts und damit dessen
Brauchbarkeit als Kategorie gleichsam von innen bezweifeln, wird er auch von
aussen bestritten, da er nur einen Ausschnitt der Gesamtwirtschaft
berücksichtige. Marx hat die mehrarbeitsfähige Arbeit – vom kapitalistischen
Standpunkt her – als die einzig «produktive» Arbeit bezeichnet. Bereits Rosa
Luxemburg hat allerdings darauf hingewiesen, dass die kapitalistische
Ausbeutung von der Unterwerfung nicht-kapitalistischer Bereiche lebt. Das
erschwert die praktische Berechnung von Mehrwert und Ausbeutungsraten weiter,
hat aber eine neue Dynamik der Analyse eröffnet. Tatsächlich ist die
Unterwerfung aller nicht-kapitalistischer Sektoren unter die kapitalistische
Verwertungslogik gegenwärtig das grösste Reservoir für die Mehrwertproduktion.
Insbesondere
von feministischer Seite wurde und wird, zum Teil in Anknüpfung an Rosa
Luxemburg, kritisiert, dass Marx mit dem Begriff der produktiven Arbeit den kapitalistisch/antikapitalistischen
Standpunkt zuweilen verwische und damit die «unproduktive» Arbeit, etwa die
Hausarbeit, zumindest vernachlässige. Das trifft auf theoretischer Ebene nicht
zu. Aber bei der konkreten Analyse des Kapitalismus gerät die Hausarbeit –
obwohl oder weil sie als Teil der Reproduktionskosten der Arbeitskraft
berücksichtigt wird – zuweilen als Mechanismus der Aufrechterhaltung eben
dieser Produktionsweise aus dem Blick. So hat etwa die in den USA lebende
italienische Ökonomin Silvia Federici kürzlich die Kritik erneuert, Marx habe
die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktionsarbeit nicht erkannt, die
weit über materielle Aspekte hinausgehe und auch die sexuelle Reproduktion
einschliesse.[5] Die bereits in den 1970er-Jahren erhobene Forderung, Lohn für
Hausarbeit auszuzahlen, sei hoch aktuell und «würde auf eine Verschiebung
sozialer Prioritäten hinauslaufen». Dagegen merkt Frigga Haug in einem diese
Debatte rekapitulierenden Beitrag im HKWM kritisch an, mit dieser Forderung werde
gerade die Ökonomisierung der kapitalistischen Produktionsweise übernommen.
Dagegen gelte es, «die notwendige Arbeit auf alle humanen Bereiche menschlichen
Lebens»[6] voranzutreiben. Sie hat mit der so
genannten «Vier-in-einem-Perspektive» einen Vorschlag als «konkrete Utopie»
gemacht: In einem Arbeitstag von sechzehn Stunden sollen die vier Dimensionen
des menschlichen Lebens jeweils angemessen und gleichwertig berücksichtigt
werden – Erwerbsarbeit, Reproduktion, eigene Entwicklung in Musse und Kultur,
sowie Politik als demokratische Organisierung des kommunalen Zusammenhalts.[7]
Absurd
aufwendig, aber notwendig
An diesem
Beispiel zeigt sich, dass das «Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus»
nicht nur historisch-kritisch vorgeht, sondern sich – im Rahmen und trotz
seiner langwierigen Produktion – auf dem Höhepunkt aktueller Diskussionen
befindet. Dabei ist es seinerseits Teil der Geschichte des Marxismus. 1983 als
Übersetzung des ungleich knapperen französischen «Kritischen Wörterbuchs des
Marxismus» gestartet, ist das HKWM seit 1990 zu einem ambitiösen, riesenhaften
Unterfangen geworden. Seit dem ersten Band von 1994 sind Anspruch und Zahl der
Stichwörter ständig gestiegen. Nach 25-jähriger Arbeit füllen die bislang
erschienenen neuneinhalb Bände (in zwölf Büchern) mit jeweils zwei
grossformatigen Textspalten pro Seite insgesamt über 12’000 Textspalten.
Mittlerweile kann sich das Wörterbuch im Untertitel der Mitwirkung von über 800
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen Kontinenten rühmen. Als
Trägerin fungiert das unabhängige Berliner Institut für kritische Theorie
(Inkrit), das lose mit andern Stiftungen verbunden ist und jährlich
internationale Konferenzen durchführt und eine eigene Buchreihe pflegt.
Vor ein paar
Jahren habe auch ich einmal einen Beitrag fürs HKWM geschrieben, zum Stichwort
Kriminalromane, das zwischen «Krieg und Frieden» und «Krise» platziert ist.[8] Der Produktionsvorgang ist unvergleichlich. Gemäss
detaillierten Vorgaben legt man einen Entwurf vor, der ein erstes Mal
kommentiert wird. Die entsprechend überarbeitete zweite Version wird dann in
den jährlichen Werkstätten von zehn bis fünfzig Interessierten diskutiert. Da
kann die Kritik durchaus harsch ausfallen. Gelegentlich wurden Artikel nach der
Diskussion zurückgezogen, und es brauchte etlichen diplomatischen Aufwand, um
die AutorInnen bei der Sache zu halten. Die nach der Diskussion überarbeitete
dritte Version wird erneut kommentiert, und dann wird womöglich die vierte
Version genehmigt. Es ist ein absurd aufwendiges Verfahren, ausbeuterisch und
mehrwerterzeugend. Denn plötzlich stellt sich dieses betörende Gefühl ein, wenn
das gemeinsame Nachdenken und Verbessern neue Qualitäten hervorbringt.
Der
Abschluss des Wörterbuchs ist mehrfach verschoben worden und gegenwärtig nicht
abzusehen. Natürlich ist ein solches Unterfangen ständig bedroht, vom
Geldmangel, vom abnehmenden Interesse, von der zerrinnenden Zeit. Die beiden
HauptinitiatorInnen und treibenden Kräfte, Frigga und Wolfgang Fritz Haug, sind
weiterhin unermüdlich tätig, haben aber beide die Schwelle ins neunte
Lebensjahrzehnt überschritten. Das HKWM braucht neue MitarbeiterInnen, und es
braucht mehr AbonnentInnen und LeserInnen. Denn es muss weitergehen. Es ist ein
unverzichtbares Projekt der intellektuellen Menschheitsgeschichte.
«Historisch-Kritisches
Wörterbuch des Marxismus». Herausgegeben von Wolfgang Fritz Haug, Frigga Haug,
Peter Jehle und Wolfgang Küttler. Band 9/I: «Maschinerie bis Mitbestimmung».
Argument Verlag. Hamburg 2018.
Weitere
Informationen unter www.inkrit.de
[1] HKWM
Band 9/I, Spalte 430.
[2] Siehe Stefan Howald: «Wenn das Kapital nicht weiss, wohin»,
in: WOZ Die Wochenzeitung Nr. 20/18 vom 17.5.2018.
[3] Siehe HKWM Band 6/II, Spalten 1100 – 1108.
[4] Siehe Thomas Piketty: «Das Kapital im 21. Jahrhundert».
2014. Bemerkenswerterweise bleibt Piketty analytisch
aber zumeist auf der Ebene der Zirkulationssphäre, ohne sich auf die zugrunde
liegende Produktionsweise einzulassen.
[5] Siehe
«Die halten uns wirklich für blöd». Interview von Caroline Baur mit Silvia
Federici, in: WOZ Die Wochenzeitung Nr. 22/18 vom 31.5.2018.
[6] HKWM
Band 9/I, Spalte 427.
[7] Siehe Frigga Haug: «Die Vier-in-einem-Perspektive». Politik
von Frauen für eine neue Linke. 2. Auflage. Hamburg 2009.
[8] Siehe HKWM Band 7/II, Spalten 2109 – 2120.