Dreizehnte
Vorlesung
Unausweichlichkeit von Interpretation und
übersetzender Lektüre
>Warum soll ich den marxschen – oder
irgendeinen anderen – Text nicht einfach so nehmen, wie er dasteht? Warum so
viel Aufhebens machen von der Lektüre?< So mag sich der gesunde Menschenverstand zunächst fragen, bis ihm die
Reflexion ein Licht
aufsteckt.
Von anderen stößt mir die Erfahrung zu, dass
derselbe Text anders gelesen wird, als ich es für selbstverständlich gehalten
habe. Meiner Lektüre wird auf einmal das Etikett einer bestimmten Schule
aufgeklebt. Und wie die philosophischen Schulen oder ihre Leitsätze in der
Antike sectae genannt worden sind, so
mag ich mich zunächst als Sektierer gegen andere Sektierer verhalten und
sämtlichen anderen Richtungen gegenüber klarstellen, >dass wir mit ihnen
nichts gemein haben< (AK 1974, 1). Jedenfalls mache ich jetzt gewaltiges
Aufheben davon, dass und wie (statt so wie von mir) der Text verstanden und
also interpretiert wird. An meinem Gegenüber mag mir endlich dämmern, dass ich,
indem ich gar nicht eigens zu interpretieren glaubte, wie selbstverständlich
interpretiert hatte und dass in meinem Bewusstsein diese Tatsache in spontaner
Zugehörigkeit zu einer Interpretationsgemeinschaft ausgelöscht war.
Auf Dauer können wir die Augen nicht davor
verschließen, dass dies nicht nur für die Anderen, sondern zunächst je für uns
selbst gilt. Werden wir uns mit dem Dasein von Parteigängern, als die wir uns
nun bewusst geworden sind, zufrieden geben? Oder werden wir anfangen, über die
eignen Voraussetzungen nachzudenken? Deren Werk war es, dass uns der Text
bislang eindeutig und geschlossen vorkam. Jetzt entdecken wir auf Schritt und
Tritt Mehrdeutigkeiten. Auch der von der unsrigen divergierenden Leseweise
müssen wir nun zugestehen, dass es Anhaltspunkte für sie im Text gibt. Damit
ist die Zeit für uns gekommen, ins Lager der reflexiv gewordenen Lektüre
überzugehen. Hier werden die bisher gedankenlos mitgeführten
Denkvoraussetzungen ans Licht gezogen und kritisch in Beziehung gesetzt zu anderen Denkmöglichkeiten,
vor allem jedoch zur zu denkenden Wirklichkeit
selbst und zu den Handlungsalternativen in ihr. Die anfängliche
Selbstverständlichkeit zeigt sich jetzt als ein Verständnis, das in der
Entfremdung stehen blieb.
1. Interpretationsverständnisse
Angesichts
der Interpretationskontroversen mit ihren auseinanderklaffenden Lesarten, oft
genug überbestimmt von Markt- und Karrierekonkurrenz, brauchen wir eine
kritische Interpretationstheorie, flankiert von handwerklichen Lesetechniken. Wie immer Interpretation aufgefasst wird,
>stets geht es um ein
ideelles Vergesellschaftungshandeln, bei dem es auf die Koordinierung der
Vielen auf der Linie eines gesellschaftlichen Konsenses ankommt, der dann, nach
innen genommen, in die Ausbildung individueller Kohärenz eingreift<
(Orozco/Jehle 2004, 63).
Es kann also
keine unschuldigen Lektüren geben. Alle sind sie mit ^Politik^^ und
^Philosophie^^ geladen. Um Entscheidung und Streit kommen wir nicht herum. Um
uns produktiv damit auseinandersetzen zu können, müssen wir das Politische und
das Philosophische aus ihren Verstecken treiben und als solche besichtigen. Zu
diesem Zweck werden wir versuchen, Raum und Zuständigkeit des
Handwerklich-Technischen so weit als irgend möglich auszudehnen.
Interpretationstheorien
haben zuletzt in der Mitte des 20. Jahrhunderts unter dem Namen Hermeneutik Furore gemacht. Der Name
Hermeneutik leitet sich vom griechischen Verb hermeeneúein ab, dessen Bedeutungsfeld von erklären, auslegen bis
übersetzen reicht. Der hermeeneús,
auch hermeeneútees, ist der Erklärer,
Dolmetscher oder Herold; hermeeneía
meint Sprache, Rede, aber auch die Auslegung oder Erklärung. Der platonische
Sokrates assoziiert den Ausdruck halb ernst, halb scherzhaft mit eírein (Sprechen), dieses wiederum mit
der eironeía (Verstellung, Anschein
von Unwissenheit) und der Botin Iris,
vor allem aber mit dem ággelos klopikós, dem diebischen Boten der
Götter Hermes (Kratylos, 407e-408b).
Alles dreht sich hier um Sprachgebrauch, durch den jemand andere ebenso aufklären wie hereinlegen kann. Und
wie Tauschen und Täuschen einen gemeinsamen Ursprung haben, so ist Hermes der
Gott der Händler wie der Diebe. Der Name seines lateinischen Pendants, Mercurius, leitet sich römisch-handfest
ohne solche feinsinnigen Assoziationen von merx
ab, der Ware, die dem mercatus, dem
davon abgeleiteten Markt, und der merces,
der Entlohnung, ihre Namen gegeben hat. Bei der Erkundung des Geländes für
unsere Interpretationstätigkeit sind wir überraschend bei den Ware-Geld-Beziehungen
gelandet.
In Rudolf
Eislers im Auftrag der Kantgesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts
herausgegebenem Wörterbuch der
philosophischen Begriffe (41927) finden sich nur drei Zeilen
über Hermeneutik als >Auslegekunst, Kunst der wissenschaftlichen
Interpretation…<. Im Nachfolgewerk, dem zunächst von Joachim Ritter
herausgegebenen Historischen Wörterbuch
der Philosophie sind jenem Begriff bereits 13 Spalten gewidmet. Verfasser
ist der Heideggerschüler Hans Georg Gadamer. Dessen Buch Wahrheit und Methode wurde in
der Bundesrepublik nach der Niederlage des Nazismus und des mit diesem
verschmolzenen Nationalkonservatismus zum weithin anerkannten Muster
konservativer Interpretationslehre.
Gadamer
gründet seine Hermeneutikauffassung im Hermesmythos, und hier -- unter
Auslassung des Tauschens, Täuschens und Entwendens, also der
Ware-Geld-Beziehungen und der diese verletzenden Aneignung – auf die dem
Hermes zugeschriebene Rolle, den Menschen den göttlichen Willen zu
verdolmetschen. Dem Zweck des normativen Konservatismus kommt entgegen, dass
diese Rolle >an die Sakralsphäre gebunden war, in der ein autoritativer
Wille Maßgebliches dem Hörenden eröffnet< (Gadamer 1974, 1062).
Was
Konservative an Interpretation interessierte, waren zunächst Rechtsprechung und Predigt als zentrale
Paradigmen aller Auslegung. Bei beiden geht es um Auslegung und Anwendung
ebenso sanktionierter wie sanktionierender Texte. Von rechts außen hat Leo
Strauss sich zum Verhältnis von Interpretation und Auslegung geäußert. Von der Interpretation erwartet er >den Versuch, zu ermitteln was der Sprecher sagte und
wie er selbst tatsächlich verstand, was er sagte, ohne Rücksicht darauf, ob er
dieses Verständnis eigens zum Ausdruck brachte oder nicht<. Zur Auslegung
rechnet er dagegen >den Versuch, jene Implikationen seiner Darlegung zu
ermitteln, die dem Sprecher entgangen sind<. Gadamers konservative
Hermeneutik vermeidet solche Gewaltsamkeit gegenüber dem sakralen Original.
Doch mit der Schlussfolgerung würde er übereinstimmen: >Offensichtlich muss
die Interpretation der Auslegung vorangehen.< (Strauss 1952/1971, 301)
Für die
Techniken von Interpretation und Auslegung ist traditionell die Philologie zuständig. Ihr
Gegenstand ist zunächst die Dichtung, die in der Antike zugleich Theologie war mit Homer an der Spitze. Über
die Dichtung rückt allgemein die Kunst als ^höhere Sinnsphäre^^ zu Religion und
Recht. In dieser Trinität ist für die konservative Hermeneutik das Autoritative
schlechthin als normative Ordnung in der Vergangenheit verkörpert. Der den Laien
übergeordnete Hermeneut macht die Unterstellung unter diese Autorität vor.
Seine vornehme Stellung verlangt von ihm, dass er sich zurücknehme bis zur
Selbstverleugnung. >Das Verstehen ist selbst nicht so sehr als eine Handlung
der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein
Überlieferungsgeschehen<; um die Quelle der Autorität nicht zu trüben, darf
es nicht als >Handlung der Subjektivität< auftreten, >sondern bestimmt
sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet< (Gadamer
1960, 274, 277).
Hier geht es
um eine Ausbildung der Subjekte befugter Interpretation des Autoritativen, die diese als
Subjekte entnennt, während die Ausbildung selbst militärisch als
>Einrücken< gefasst und damit der demokratischeren Sphäre des methodisch
allgemein Lehrbaren entzogen wird. Der >hermeneutische Zirkel< besagt
zunächst: Das Einzelne versteht sich vom Ganzen her, dessen Verständnis dasjenige
alles Einzelnen voraussetzt; zugleich deutet er auf den >Zirkel< der
Verstehenden, in den man durch >In-den-Kreis-Springen< (Heidegger)
gelangt. Nur so wird einem das rechte Verständnis, d.h. der >rechte
Fragehorizont< zuteil. Selbst die Geschichte wird ins durch befugte Interpreten verkörperte ^Verstehensgeschehen^^ ein- und vom historischen Materialismus
weggezogen:
>Ein Gegenstand
historischer Forschung existiert überhaupt nicht.< (269)
Werfen wir
noch einen Blick auf das hermeneutische Instanzenspiel. Auf der einen Seite
treffen wir auf die befugten Akteure. Zwar sind alle Menschen verstehende
Wesen; aber, wie bereits angedeutet, einige verstehen sich formell aufs
Verstehen. Konkret begegnen uns Theologen, Juristen, Historiker, Germanisten,
Kunsthistoriker oder, wie bei Heidegger, die Denker und Dichter selbst. Mit
einer gewissen Ausnahme der Letzteren, die selbst als Quelle der Legitimation
in Frage kommen, ist die überlieferte Bildungswelt mit dem Kern der heiligen
Texte, klassischen Werke und Gesetze das Medium und die Autoritätsquelle dieser
Akteure. Deren immer erneute Auslegung und Anwendung der alten Wahrheiten zielt
auf ideelle Vergesellschaftung von Höherem her; Reproduktion >konkreter
Bindungen von Sitte und Überlieferung<; Reproduktion der guten Gesellschaft, ihrer Zugehörigkeit
und Vorurteile. Der Sonderkompetenz der Hermeneuten steht die hermeneutische
Inkompetenz der Vielen, der >Einfachen<, gegenüber, ein Verhältnis,
dessen Analyse nach Ideologietheorie verlangt.
Am besten
machen wir uns gleich klar, dass der historische Marxismus ein dem
konservativen Modell vergleichbares Spiel befugter Interpreten mit heiligen Texten
hervorgebracht hat – wenngleich in eklatantem Widerspruch
zu den ^Klassikern^^ und schlechten Gewissens gegenüber der Masse der
>Genossen Unbefugten< (Aitmatow 1982, 368). Reproduzieren wir gar selbst
jenes Instanzenspiel mit seinen Subalternitätsverhältnissen? Sind wir, ohne es
zu wollen, >Teil der vom ideologischen System der Kontrolle verbreiteten Illusion, die darauf abzielt, die
Angelegenheiten der breiten Bevölkerung entrückt erscheinen zu lassen und sie
von ihrer Unfähigkeit zu überzeugen, ohne die Vormundschaft von Vermittlern
ihre eignen Angelegenheiten zu organisieren< (Chomsky 1981, 32)?
Dass Absicht und Anlage dem diametral
entgegengesetzt sind, gibt noch keine Garantie. Die Praxis der Adressaten
dieser Vorlesung wird den Ausschlag geben. Es geht jedenfalls nicht darum,
ihnen die Mühe eigener Kapital-Lektüre
zu ersetzen, sondern sie dabei zu unterstützen. Die Mittel, die wir dabei
einsetzen, unterliegen dem Kriterium allgemeiner Zugänglichkeit. Wir privilegieren allen verfügbares Praxiswissen. Die ^Politik der Lektüre^^ soll ins Offene
geholt, die Kompetenz so weit als möglich verallgemeinert werden. Der
Akzent liegt darum auf dem wissenschaftlichen Handwerk. Wir werden primär auf
die Arbeitsweise unseres Autors Marx hin lesen.
Gadamers
Hermeneutik zielt dagegen darauf ab, die Hörenden zur Selbstunterstellung unter
den ^hermeneutisch^^ eröffneten Sinn zu bringen. Er kann hierbei auf eine
allgemeine spontane Bereitschaft zur Sinn-Unterstellung zählen. Manfred
Wekwerth hat diese in einem Experiment demonstrativ aktiviert, das für
Schauspielschüler gedacht war, aber eine allgemeine Disposition zum Hineinsehen
von Sinn an den Tag bringt. Er veranlasste einen der Schauspielstudenten, sich
einfach auf die Bühne zu stellen und vor seinen Kommilitonen >nichts zu
spielen, nichts zu tun, nichts zu denken<. Den andern sagte er, man habe ihn
gebeten, etwas zu spielen, und sie sollten herausfinden, was. Und was sie alles
herausfanden! >Die Tragik des Menschen in der Industriegesellschaft. Die
Verlorenheit, Entfremdung des Einzelnen. Dann aber die Kühnheit der Verweigerung< usw. (1980,
114f). So viel zum Unterstellen von Sinn. Beim Wekwerth-Experiment wurde das
Nichtzeichen als Zeichen gelesen. Die konservative Hermeneutik, die dem preußischen zentralstaatlichen
Muster entspricht, hält uns Zeichen entgegen, die wir als
die eines Transzendenten verstehen sollen, dem wir uns unterstellen.
Als zweite besichtigen wir am Beispiel von Charles
Taylor eine liberale
Hermeneutik, die eher der angelsächsischen ^Klubgesellschaft^^ und ihrer
politischen Kultur entspricht. Verstehen hat hier nicht von vorneherein und
frontal das Autoritativ-Autorisierende zum Gegenstand, sondern weist auf
horizontale Verständigung in einer Gruppe. Wie Gadamer hat
Taylor von Heidegger gelernt. Sein Hauptproblem verstehen wir gut: Er will
klären, was >unklarer Ausdruck< heißt. Mit der Grundlage des Problems wie
den Klärungsmöglichkeiten sind wir bereits früher flüchtig in Berührung
gekommen[1]:
Viele, nicht voll-adäquate Sinnträger (Signifikanten) hat der Sinn (meaning).
Verstehen heißt daher notwendig interpretieren, und beim klärenden
Interpretieren eines zunächst Unklaren ersetzt man einen Sinnträger durch
andere. Interpretation tut dabei einen Schritt nach vorn, ins Offene. Wesen ist für sie
nicht, was gewesen ist. Damit spannt sich ein Feld des Verstehens mit vier
Instanzen auf, die einander wechselseitig bedingen: Das Deutungsverhältnis
eines Subjekts zu einem textuellen oder textanalogen Objekt wird gekreuzt von
der Sinnhaftigkeit, die ein bestimmtes ^politisches^^ Projekt aufschließt. Und
wie Heidegger aus der deutschen Redewendung >sich auf etwas verstehen<
den Zusammenhang von Sachkompetenz und Selbstsein herausgelesen hat, so können
wir sagen: Verstehen eines bisher Nichtverstandenen bedeutet Sich-Ändern. Noch
ist unser Verstehensfeld mit seinen vier Instanzen unterbestimmt. Verständigung
mit anderen läuft auf die Bildung von Verstehensgemeinschaften hinaus. Für
Taylor heißt das:
>Gemeinsame Bedeutungen
sind die Basis der Gemeinschaft.< (1975, 191)
Das lenkt
die Aufmerksamkeit auf die Vergesellschaftungsrelevanz. Dennoch wird umgekehrt
ein Schuh daraus: solchen Bedeutungsgemeinschaften liegt eine bestimmte
Vergesellschaftung zugrunde. Freilich erscheint es vom Standpunkt isolierter Einzelner
umgekehrt. Man muss nur Gramsci neben Taylor halten, um dessen Ausgangspunkt
als individualistisch zu erkennen. Zunächst scheint Gramsci mit diesem
übereinzustimmen:
>Durch die eigene
Weltauffassung gehört man immer zu einer bestimmten Gruppierung, und genau zu
der aller gesellschaftlichen Elemente, die ein- und dieselbe Denk- und
Handlungsweise teilen.< (H. 11, §12, 1376)
Doch dann zeigt Gramsci, dass es in Gestalt
der gesellschaftlichen Wirklichkeit unhintergehbare Kriterien für Taylors
Verstehensgemeinschaften gibt. Auch wenn die Individuen die Akteure
sind, sind sie nicht in jeder Hinsicht individuell.
>Wenn die
Weltauffassung nicht kritisch und kohärent, sondern zufällig und
zusammenhangslos ist, gehört man gleichzeitig zu einer Vielzahl von Masse-Menschen,
die eigene Persönlichkeit ist auf bizarre Weise zusammengesetzt< (ebd.).
Sind für
Taylor die Privatindividuen der bürgerlichen Gesellschaft die Akteure der
Gruppenbildung auf Basis gemeinsamer Be/Deutungen, so sind diese Individuen für
Gramsci immer schon uomini-massa
(wörtlich >Masse-Menschen<) und fundiert er den von Taylor gemeinten
Zusammenhang in der durch die Weise der Produktion und ihrer Verhältnisse
bestimmten Gesellschaft. Kritisch-kohärent kann kein Selbstverständnis sein,
das sich nicht aus der Stellung in dieser naturwüchsig vorgefundenen
sozioökonomischen Struktur und in der Perspektive ihrer bewussten und konsensuellen Neugründung versteht.
Damit ist
ein gleichsam substanzielles Allgemeines angesprochen in Gestalt der
gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen zueinander und zur umgebenden und
ihr Leben bedingenden Natur. Dieses steht im Mittelpunkt von Fredric Jamesons
Entwurf einer marxistischen Hermeneutik. Für ihn ist das ^Politische^^ bei der
>Interpretation literarischer Texte< keine besondere Zutat und drückt kein
Spezialinteresse aus, sondern bildet >den absoluten Horizont aller Lektüre
und aller Interpretation< (1981, 17). Als >negative Hermeneutik< des Marxismus
versteht er die Ideologiekritik. Er ergänzt sie durch eine >positive
Hermeneutik<, die er als >a collective-associational
or communal reading of culture<
einführt (1981, 296). Jamesons Buch erschien kurz nach der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, und es ist, als hätte er
damit beschreiben wollen, was Weiss dort tut, obwohl er dieses Werk noch nicht
kannte. Bezugspunkt ist nicht mehr die liberale Gruppe oder das Klub-Paradigma,
sondern >die Einheit einer einzigen großen kollektiven Geschichte<, deren
Grundthema >in wie immer verkleideter und symbolischer Form […] der kollektive Kampf bildet, dem Reich der Notwendigkeit ein Reich der
Freiheit abzuringen< (19).
2. Interpretationsnotwendigkeiten
Eine reflektierende Lektüre wird übersetzen;
zum Beispiel hebt sie an als
Nach-Denken, was als Sache und wer als Adressaten einmal damit gemeint waren,
um dann die Frage neu aufzuwerfen im Blick auf die aktuelle Sache und die
gegenwärtigen Adressaten. Es kann immer sein, dass die damals Gemeinten
historische Vergangenheit sind und wir in unserer werdenden Geschichte mit
denselben Worten auf anderes und auf andere zielen. Die Reflexion aufs Wort, um nach dem sachlichen wie
kommunikativen Sinn zu fragen, den es uns sagen müsste, führt auf den
eingreifenden Charakter des Textes. Als Kommunikationsakt soll er bestimmten
Adressaten etwas verständlich machen. Damit es ihnen überhaupt erst als
erklärungsbedürftig auffällig wird, kann es angebracht sein, das Fremde in
vertrauter oder das Vertraute in fremder Gestalt darzustellen, kurz, es zu
verfremden. Selbstverständlichkeit kann die Form sein, in der man sich ans
Nichtverstehen gewöhnt hat.
>Es ist nur die
Gewohnheit des täglichen Lebens, die es als trivial, als selbstverständlich
erscheinen lässt, dass ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis
die Form eines Gegenstandes annimmt, so dass das Verhältnis der Personen in ihrer Arbeit sich
vielmehr als ein Verhältnis darstellt, worin Dinge sich zueinander und zu den
Personen verhalten.< (13/22)
So heißt Verstehen überhaupt Interpretieren; und Interpretieren heißt in der Praxis stets, Etwas als
etwas Anderes artikulieren. Für ein und dasselbe Ding gibt es grundsätzlich
mehr als ein und dieselbe Artikulationsmöglichkeit. Wer glaubt, Sprechen könnte eine ^eigentliche^^ Referenz aufs Gemeinte
herstellen, wird darin das ^Uneigentliche^^ des Textes sehen. Wenn ein Text nur den
thematischen, nicht den kommunikativen Charakter zeigt und insofern ^elliptisch^^ ist, müssen wir ihn
für unsere Zwecke um den ausgeblendeten Brennpunkt ergänzen. Wer am Wort klebt, dem fallen die
dargestellten Dinge in ebenso viele Wesen auseinander, wie der Text
Artikulationen für sie bereithält.
Bei Marx lassen sich zwei gegenläufige Arten
^uneigentlicher^^ Sprechweisen beobachten, die eine als Popularisierung, die andere als Intellektualisierung
oder Akademisierung. In ergänzender
Lektüre, die den jeweiligen Kontext einbezieht, werden wir sie verständlich zu
machen suchen, um sie dann womöglich zu übersetzen. Popularisierung betrifft
vor allem die Objektsprache; Akademisierung oder Intellektualisierung vor allem
die epistemologische oder Metatheoriesprache. Beiden Versuchungen zu
widerstehen ist der Sinn der Anstrengung, die Sache selbst ohne spekulative
Mysterien auseinanderzulegen oder sie im Gegenteil aus ihrem unmittelbar
begegnenden Auseinander in ihren Übergängen zusammenzunehmen. Die Sache selbst
aber sind hier wir Menschen und unsere gesellschaftlichen Verhältnisse.
Das beste Beispiel für eine
>popularisierende< Abweichung von der angemessenen Theoriesprache ist die
Bezeichnung kapitalistischer Mehrarbeit als >unbezahlte Arbeit< und des
Mehrwerts als >seiner Substanz nach Materiatur unbezahlter Arbeitszeit<.
Marx sagt es selbst: Diese Sprechweise ist >nur populärer Ausdruck für
Mehrarbeit / Notwendige Arbeit< (23/556). Wenig überzeugend ist indes die
Rechtfertigung dieser theoretisch streng genommen falschen Sprechweise:
>Das Missverständnis, wozu die Formel Unbezahlte Arbeit / Bezahlte
Arbeit verleiten könnte, als zahle der Kapitalist die Arbeit und nicht die
Arbeitskraft, fällt nach der früher gegebenen Entwicklung fort.< (Ebd.)
In Marx’
Lernprozess habe ich gezeigt, dass es sich hier um einen Brückenschlag zur
Alltagssprache der Arbeiterbewegung handelt. >Hier ist sie also, die wirkliche theoretische Sünde von
Marx. Die ihm Popularisierung vorwerfen, halten sich bei ihr nicht auf. Wo sie
ihm dagegen Popularisierung oder Vulgarisierung[2]
im Sinne von Verschlechterung der Theorie vorwerfen, lassen sich gerade
entscheidende Verbesserungen entdecken.< (2005, 226) Sie manifestieren sich besonders in
der Dialektikauffassung sowie auf dem epistemologischen Terrain, auf dem sich
unsere Untersuchung engagieren wird. Dazu bald mehr.
Ein viel größeres Problem als die
Popularisierung stellen die marxschen Brückenschläge in die entgegengesetzte
Richtung dar. In der Deutschen Ideologie,
der Schrift ihres Bruches mit der traditionellen Philosophieform, reflektieren
Marx und Engels über eines der Zugeständnisse, die sie in ihrer Sprechweise
machen, >um den Philosophen verständlich zu bleiben< (3/34), hier die den
Junghegelianern vertraute Rede von der >Entfremdung<. In anderem Kontext
kam es darauf an, dem noch in der Bewusstseinsphilosophie und ihrer
dualistischen Ontologie steckenden Denken verständlich zu reden -- gerade dann,
wenn man ihm widersprach. Das vermutlich bekannteste Beispiel einer solchen
Widerrede von Marx lautet:
>Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern
umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.< (13/9)
Hieran lässt sich beobachten, wie in den
Sätzen, die das Alte aufheben, das Alte immer auch aufbewahrt bleibt. Von
solchen Sätzen sagt Brecht, ironisch die homerischen Schlachtschilderungen
bemühend, dass sie Schilden gleichen, die eingedellt und mit dem Blut
beschmiert sind von den damit eingeschlagenen Schädeln der Gegner. Spräche Marx
einfach über die Wirklichkeit,
wie er sie sieht, und nicht primär gegen andere Sichten, dann würde er Sein und
Bewusstsein nicht auseinanderreißen, sondern ebenso schlicht wie genau von den
in bestimmten Verhältnissen bewusst tätigen Individuen handeln. Allenfalls
nähme er sich diejenigen Strukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit vor, die jene
Auseinanderreißung hervorbringen.
Nimmt man nun solche Antithesen als Thesen,
also die Gegensätze als einfache
Sätze, und verabsolutiert diese zu Lehrsätzen, dann verharrt man, ohne es zu
merken, auf dem Terrain, das es zu verlassen galt. Gerade in der Art, wie man
der ^richtigen Lehre^^ folgen wollte, verfehlt man sie dann. In der
sowjetischen Philosophie und in deren Gefolge in der DDR wurde tatsächlich eine
>Seinssphäre< von einer >Bewusstseinssphäre< unterschieden.[3]
Eine Mischform zwischen Popularisierung und
Intellektualisierung kann in dem Versuch gesehen werden, sich der
sedimentierten Philosophie im Alltagsverstand verständlich zu machen. Die
Auftreffstruktur kann in diesem Fall borniert und verhärtet sein, doch
wenigstens gewährt sie überhaupt
Zugang und Resonanz.
Der Status eines Urbeispiels könnte im Falle
der Kapital-Lektüre dem Wort
>logisch< zuerkannt werden. Engels, der es in die Interpretation der marxschen Ökonomiekritik
eingeführt hat[4], bezog sich dabei auf ein
bereits ^sedimentiertes^^ Paradigma deutscher
Philosophie, nämlich Hegels Wissenschaft der Logik. Um der
marxschen Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie in den Augen
der Leser der sozialdemokratischen Wochenschrift Das Volk Bedeutung zuzusprechen, vergleicht Engels sie mit Hegels Logik.
>Seit Hegels Tod ist kaum ein Versuch gemacht worden, eine Wissenschaft in ihrem eignen, inneren
Zusammenhang zu entwickeln.< (13/472)
Hegels Methode war, >von allem
vorliegenden logischen Material, das einzige Stück, an das wenigstens
angeknüpft werden konnte< (473). Usw. Da nun aber heute weder Hegels Denken
das einzig relevante epistemologische Material ist, an das angeknüpft werden
kann, noch die Adressaten, bei denen die Botschaft ankommen soll, die gleichen
sind, ist übersetzende Lektüre angesagt. Wie Logos mit Begriff, kann logisch
mit begrifflich ^übersetzt^^ werden. Das trifft sich in diesem Fall sogar mit
Marx. Denn dieser spricht nirgends von seiner >logischen Methode<, die
ihm von so vielen Interpreten eingeredet wird,[5]
vor allem von denen, welche die marxsche Auffassung der Dialektik wieder durch
die hegelsche ersetzen.[6]
Auch sagt er nicht, seine Darstellung folge einer
>^logischen^^ Ordnung< (Bidet 2004, 163).[7] So verständlich die engelssche
kommunikative Taktik gewesen ist, in seiner Rezension von 1859, lange vorm
Erscheinen des Kapital, die marxsche
theoretische Produktionsweise >logische Methode< zu taufen, so erinnert
die gedankenlose Wiederholung dieser Benennung an Mephistos Studienberatung:
Denn eben wo Begriffe fehlen,
Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.
Mit Worten lässt sich trefflich streiten,
Mit Worten ein System bereiten,
An Worte lässt sich trefflich glauben,
Von einem Wort lässt sich kein Jota rauben.
Marx selbst spricht wahlweise von seiner
>dialektischen<, >theoretischen< oder sogar >analytischen
Methode< und stellt dem Begriff des Historischen den des Begrifflichen zur
Seite.[8]
So, wenn er etwa von der Kooperation bzw. vom >Wirken einer größern
Arbeiteranzahl […] unter dem Kommando desselben Kapitalisten< sagt, dieses
bilde >historisch und begrifflich den Ausgangspunkt der kapitalistischen
Produktion< (23/341).
Gleich zu Beginn des Kapitals ist uns ein besonders aufschlussreiches Beispiel begegnet
(VI.5ff, VIII.10). Und zwar artikuliert Marx dasjenige Erkenntnisobjekt, für das er den Term Wertform geprägt hat, doppelt, zuerst als >Ausdrucksweise oder Erscheinungsform des Werts< (23/53),
dann wieder als >Erscheinungsform
des Wertes< oder >Wertausdruck< (62).[9]
Die Artikulation als >Erscheinungsform<,
die Karl Korsch einzig aufnimmt,[10]
baut eine Brücke rückwärts zur sedimentierten Philosophie mit ihrer
Unterscheidung von Wesen und Erscheinung;
die als >Ausdrucksweise des Werts< oder >Wertausdruck< weist auf
Akte und Formen, den Wert von Waren darzustellen, und bahnt damit den Ausgang
aus der metaphysischen Grammatik an. Geht es dann konkret um den
einfachstmöglichen >Wertausdruck< als >Wertverhältnis
einer Ware zu einer einzigen verschiedenartigen Ware< (ebd.), bei dem jene
erste Ware >eine aktive, die zweite eine passive Rolle< spielt (63),[11]
verschwindet der Schein der Symmetrie, den die Schreibung des Wertausdrucks als
Gleichung (x Ware A = y Ware B) mit sich führt. Fasst man das Erkenntnisobjekt statt dessen als >Erscheinungsform des Werts<, scheint es, dass jener Ausdruck >can be read in
either direction< (Arthur 2002, 97), zumal Marx selbst das
>Wertverhältnis einer Ware zu einer einzigen verschiedenartigen Ware< im
nächsten Satz missverständlich als >Wertverhältnis zweier Waren< (23/62)[12]
und die Ausdrucksform des Werts einer einzelnen Ware als >Wertgleichung<
(70) bezeichnet, wobei leicht übersehen wird, dass >Gleichung< hier nur ein mathematisches
Gleichnis ist.
Wie bereits dieses Beispiel zeigt, wird in
solchen Fällen Interpretation zur kritischen Lektüre. Die Mehrfachartikulation bei Marx erzwingt
Interpretation, die das Risiko eingeht, ^etwas als etwas anderes^^ zu lesen.
Mehr noch: interpretierend müssen wir im marxschen Text einen Unterschied
machen und eine Entscheidung treffen. Auf der Spur des subversiv-übersetzenden
Rückbezugs von Marx auf die traditionelle philosophisch-theologische
Terminologie setzen manche Interpretationslinien restaurativ an und produzieren
Grobvarianten sedimentierter (gestorbener) Philosophie. Wer dagegen den
Rückfall in metaphysisches Denken vermeiden will, muss dem Gegenstand in seinen
Bewegungen und Übergängen folgen, was hier heißt, menschliches Handeln (Tauschen,
Ver/Kaufen) in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen (privat-arbeitsteiligen Verhältnissen) in seine Aus- und
Rückwirkungen und deren Verselbständigung zu verfolgen.
Ein Beispiel für Marxens ironische Anleihen bei
der traditionellen Philosophie, wobei Marx einen metaphysischen Basisbegriff
einsetzt, bietet die Rede von der >Wertsubstanz<
(11, 49 u.ö.). Das damit
Benannte überführt Marx, im Gegensatz
zum Bedeutungshintergrund des Substanzbegriffs, alsbald in eine zweifach
komplementäre Aufhebung, einerseits in ein gesellschaftliches
Geltungsverhältnis, andererseits in die Relation des gesellschaftlich
durchschnittlich notwendigen Reproduktionsaufwands eines Produkts zum
Reproduktionsaufwand anderer Produkte. Der marxsche Sprachgebrauch ist ironisch:
Er gibt zunächst einer Erscheinung
Recht, um gleich darauf zu zeigen, dass dieser die Verdinglichung eines
gesellschaftlichen Verhältnisses zugrundeliegt.
>Die ökonomischen Entdecker dieser chemischen
Substanz, die besondren Anspruch auf kritische Tiefe machen, finden aber, dass
der Gebrauchswert der Sachen unabhängig von ihren sachlichen Eigenschaften,
dagegen ihr Wert ihnen als Sachen zukommt.< (23/98)
Wert – Substanz oder Verhältnis? Allgemein
gilt: Wo immer es für die Antwort auf eine Frage mehrere Formeln gibt, die
nicht deckungsgleich sind, kann die Entscheidung nicht aus diesen Formeln
kommen.
Die dumme Rezeption klammert sich an Formeln.
Das vielleicht aussagekräftigste Beispiel, mit dem wir uns später noch näher
befassen werden, ist die auf ein Marx-Zitat gestützte Verallgemeinerung, dass
für die Darstellungsfolge, also das, was man die entwickelnde
Sequenzialisierung der Kategorien des Kapitalprozesses bei Marx nennen kann,
>gerade das Umgekehrte […] der Reihe der historischen Entwicklung< maßgeblich
sei (42/41; II.1.1/42).[13]
Wie wir sehen werden, verbaut diese Festlegung das Verständnis dessen, wie der
aktuale Wirkungszusammenhang sich zum Entstehungszusammenhang verhält.
Einerseits gilt: Voraussetzung wird Resultat, Resultat wird Voraussetzung. Andrerseits:
Kein Entstandenes ist ein für alle Male entstanden. Es muss sich reproduzieren,
solange es besteht. Alle Gegenwart ist
Übergang. Bestehen bleibt nur, was sich reproduziert. Genesis und Geltung wie
Bildungsprozess und Funktionsweise sind dadurch unauflöslich miteinander
verbunden. Geschichte ist nicht nur, was gewesen ist, sondern gegenwärtig als
>kontemporäre Geschichte< (42/372)[14],
wie schon Hegel erklärt hat, dass es in der Geschichte der Philosophie nicht
>um historische Kenntnisse< geht, >sondern um ein Präsentes, in
welchem wir selbst präsent sind< (Einleitung,
138f; vgl. Quaas 1992, 123).
In einem selbstkritischen Rückblick auf Das >Kapital< lesen präzisierte
Balibar, >dass es nicht die Produktionsweise (und ihre Entwicklung) ist, die
die Gesellschaftsformation ^reproduziert^^ und gewissermaßen ihre eigene
Geschichte ^erzeugt^^, sondern ganz im Gegenteil die Geschichte der
Gesellschaftsformation, die die Produktionsweise, auf der sie beruht,
reproduziert (oder nicht) und die ihre Entwicklung und ihre Veränderungen
erklärt< (1977, 336). In der Folge betont Balibar die Notwendigkeit, >die Analyse der kapitalistischen
Produktionsweise und Produktionsverhältnisse zu ^historisieren^^. Der
Kapitalismus ist gezwungen, sich selbst zu transformieren, seine eigenen Formen
der Ausbeutung der Arbeitskraft, seine Form der Vergesellschaftung von
Individuen. Es ist dem Kapitalismus folglich unmöglich, sich nicht zu entwickeln, und dies ist die einzig
mögliche Form seiner ^Reproduktion^^.< (1994, 37)[15]
Auch die geschehene Geschichte, soweit das in ihr sich Bewegende noch Gegenwart
hat, ist nicht ein für alle Male geschehen. Jedes Sein, können wir in Anlehnung
an Spinoza sagen, ist bestrebt, sein Sein im wiederholten Werden zu bewahren.[16]
Wir kommen
darauf zurück. Unsere
Kontextanalyse wird zeigen, dass jene Formel von der im Verhältnis zum
Entstehungszusammenhang umgekehrten Reihenfolge eine falsche Gegenübertreibung
darstellt. Das marxsche Nein zu dem hier von ihm Negierten ist berechtigt;
seine Herauslösung aus dieser bestimmten Negation und seine Verabsolutierung
zur allgemeinen Regel durch die spätere Rezeption macht die Vernunft des marxschen
Nein zu Unsinn.
3. Interpretation, Epistemologie und Wirklichkeitserfassung
Wenn wir
hier eingangs die Interpretationsverhältnisse reflektieren, so deshalb, um sie
zum gemeinsamen Verhandlungsgegenstand zu machen und der Gefahr
entgegenzusteuern, dass die Förderung erweiterter Denk- und Handlungsfähigkeit
in neue Subalternität umschlägt. So weit, so gut. Doch könnte es scheinen, als
hätten wir vor lauter Textinterpretation vergessen, dass es uns, wenn wir Kapital-Lektüre betreiben, gar nicht um etwas selber zu Lesendes, gar nicht um Text
geht, sondern um das Worüber des Textes, die begriffliche Durchdringung der
gesellschaftlichen Wirklichkeit des Kapitalismus. Zwischen denen, die kein
Außerhalb von Texten mehr anerkennen, und denen, welche die Wirklichkeit in
Faktenform unmittelbar und direkt haben zu können glauben, halten wir uns an
Jamesons in Auseinandersetzung mit Althusser entwickelte Formel:
>history is not a text, not
a narrative, […] but […] it is inaccessible to us except in textual form, [so] that our approach
to it and to the Real itself necessarily passes through its prior
textualization< (1981, 35).
Was wir früher
als Form-Analyse untersucht haben
(VIIIff), kommt in der Tat einem Aufrollen der >Ordnung des bürgerlichen
Diskurses< von seinem Selbstverständlichen her gleich. Auf dem Spiel steht:
die Selbstauslegung unserer Gesellschaft als einer kapitalistischen. Der
Eingriff in diesen Vorgang stößt auf aggressives Unverständnis bei den
Apologeten dieser Ordnung. Und er selbst spaltet sich in Abhängigkeit von der projektierten
praktischen Perspektive. Uns muss es also einerseits darum gehen, die latente
Politik von Interpretationskontroversen ans Licht zu ziehen, andrerseits diese
aus dem Raum überpolitisierter Ungenauigkeiten zu vertreiben, indem wir uns
bemühen, soviel als möglich handwerklich-technisch zu klären. Dazu gehört ein
gewisses Maß an Textkunde als Hilfswissenschaft.
Wir werden nicht vergessen, dass alle Textarbeit nur dazu dient, durch sie
hindurch uns der Erkenntnis des Kapitalismus anzunähern.
Exkurs
Abstraktion,
^Unsichtbarkeit^^ und Vermittlung
Philosophisch ist nur ein Denken, das sich
>an kein Unmittelbares klammert< (Adorno, ND, 25). Begreifen heißt immer, etwas in seiner Vermitteltheit zu
begreifen. Wie aber erkennt oder untersucht man Vermittlungen? Was bezeichnen
sie?
Dass ein Friedensrichter zwischen streitenden
Parteien zu ^vermitteln^^ versucht, das verstehen wir. Wir verstehen auch, dass
der ^Zwischenhandel^^ zwischen Produzenten und Einzelhandel ^vermittelt^^,
überhaupt, dass ^zwischen^^ Produktion und Konsumtion die Distribution
^vermittelt^^. Dann macht der Begriff eine Extension durch und bezeichnet
Dominanzverhältnisse und Funktionalisierungen, die diese erscheinenden und
deshalb leicht verständlichen Vermittlungen ihrerseits vermitteln. Die
^Formen^^ (Wertformen), in denen die Vermittlung im engeren Sinn läuft und die
dieser ihren Stempel aufprägen, sind dann selber als vermittelte Formen von
Vermittlung zwischen Produktion und Konsumtion zu begreifen. Wiederum
vermitteln diese Formen das Lohnarbeitsverhältnis und die Mehrwertaneignung
durchs Kapital. Und zwar tun sie dies, wie wir gesehen haben, auf eine Weise,
die Ausbeutung über Austausch vermittelt.[17]
Karl Popper wird sich bei seiner Marxwiderlegung einfach ans Unmittelbare
klammern, wenn er Marxens Theorie vom Mehrwert in die anders widersinnige, weil
Unvergleichbares vergleichende, Formel bringt:
>Der Wert der Löhne, die der Arbeiter empfängt, ist also verschieden von
der Zahl seiner Arbeitsstunden.< (1958, 210)
Unmittelbar beobachtbar sind Lohnhöhe und
Arbeitszeit. Der Zusammenhang zwischen beiden und mehr noch der Zusammenhang
dieses Zusammenhangs mit dem Mechanismus der Kapitalverwertung lassen sich
nicht ^unmittelbar beobachten^^. Unmittelbar beobachten lassen sich einzelne
Fakten, und der >methodologische Individualismus< möchte legitime wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung hierauf festnageln.
Was wir das Drama des Durchschnitts genannt haben (VII.6), treibt bereits über
diese Schranken hinaus.
In der Deutschen
Ideologie, dem Gründungsdokument des historischen Materialismus, haben Marx
und Engels sich kategorisch gegen Spekulation und für Erfahrungswissenschaft
ausgesprochen:
>Die empirische Beobachtung muss in jedem einzelnen Fall den
Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der
Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen<
(3/25).
Diese Regel ist vor allem von
^Hegel-Marxisten^^ oft als ^positivistisch^^ angegriffen worden. Doch nicht nur
von ihnen. Auch deren Gegner Althusser trifft sich in diesem Punkt mit ihnen.
Um das Kriterium der empirischen Beobachtung außer Kraft zu setzen, erklärt er
die wesentlichen Zusammenhänge für >unsichtbar<. In seinem Vorwort zur französischen
Taschenbuchausgabe des Kapital
(1969/1973) setzt er alles daran, den erwarteten nicht-akademischen Adressaten
den theoretischen Charakter des Kapital
einzuhämmern und ihnen eine Haltung nahezulegen, wie sie beim Lernen von
Mathematik einzunehmen ist. Er bringt das in eine Folge knapper Sätze, die eine
logische Struktur bilden:
1. Jede Theorie >ist ein System von wissenschaftlichen
Grundbegriffen< (81).
2. Diese Begriffe sind abstrakt.
3. >Die Grundbegriffe existieren in der Form eines Systems, und das macht
aus ihnen eine Theorie<.
4. >Die wissenschaftliche
Abstraktion ist keineswegs ^abstrakt^^, ganz im Gegenteil.< Sie fasst etwas
wirksameres, mächtigeres als das, was man für konkret hält. Dieses Wirksamste,
Wesentliche ist >^unsichtbar^^, daher abstrakt<.[18]
Der unsichtbare Gegenstand kann >unendlich viel konkreter< sein und
>stärkere Auswirkungen haben […] als die Gegenstände, die man ^mit den
Händen greifen^^ oder ^mit den Augen sehen^^ kann, -- und dennoch kann man ihn
weder mit den Händen greifen noch mit den Augen sehen<[19]
-- das gelte auch für den Begriff des Tauschwerts. So ist die kapitalistische
Produktionsweise fürs Auge unsichtbar, beherrscht aber die sichtbare Realität,
ist also >efficace<, >terriblement< mehr als die sicht- und
berührbaren Objekte (10).
Um das Problem klarer in den Blick zu bekommen,
versuchen wir, die beiden Positionen zusammenstoßen zu lassen, die des
Antimarxisten Karl Popper mit der des Marxisten Louis Althusser. Der erste
verabsolutiert durch seine Lösung des Problems der >Erfahrungsgrundlage<
bzw. der >empirischen Basis< (Logik
der Forschung, 17) die Beobachtung des unmittelbar Beobachtbaren. Der
zweite die Unbeobachtbarkeit weil Unsichtbarkeit von allem, was wesentlich ist.
Popper setzt fest, dass Basissätze die Form singulärer Es-gibt-Sätze haben
sollen (Logik, 68). >Basissätze
sind […] Sätze, die behaupten, dass sich in einem individuellen
Raum-Zeit-Gebiet ein beobachtbarer Vorgang abspielt.< (69) Man könnte
meinen, einen ironischen Beiklang zu hören, wenn Popper sagt: >die Basis schwankt< (75).
Wenn Popper die empirische Gegebenheit an die
sinnliche Feststellbarkeit bindet, sei sie auch durch Instrumente vermittelt,
könnte Althusser ihn fragen: >Wie beobachtet man etwas Unsichtbares wie z.B.
das Gesamtkapital?< -- >Woher weiß man im Sinne wissenschaftlichen
Wissens von etwas, das sich jeder Beobachtung entzieht?< könnte Poppers
Gegenfrage an Althusser lauten.[20]
-- >Ich weiß zum Beispiel, dass der Wert den Gebrauchswert der Waren
dominiert, und doch ist er nicht -- sichtbar oder berührbar.< So könnte
Althusser dagegenhalten. Und Popper würde erwidern: >In der Tat ist das, was
du Wert nennst, unsichtbar, darum kann es das für uns nicht geben und ist es
sinnlos, über ihn zu reden: wir müssen uns damit begnügen, die Preise zu
beobachten, wie sie sich in Abhängigkeit von Nachfrage und Angebot
verändern.<
Popper scheint den gesunden Menschenverstand
auf seiner Seite zu haben. Oder ist es vielleicht nur der Alltagsverstand, wo
er in der Ideologie festklebt? Was bei Poppers Sichtweise ins Unerkennbare und
deshalb Inexistente fällt, ist der Herrschaftscharakter kapitalistischer
Verhältnisse, vor allem ist es ihr spezifischer Aufbau aus Wertformen mit ihren
antiepistemischen Charakteren oder Erkenntnishindernissen, auf die ich später
am Beispiel der Börsenkurse eingehen
werde, weil sie dort wie mit der Lupe vergrößert und wie durch den Zeitraffer
in Erlebniszeit zusammengezogen fast unmittelbar beobachtbar hervortreten.
Poppers Wissenschaftstheorie präsentiert sich als ein Empirismus der
Unmittelbarkeit. Das Ensemble der Vermittlungen wird der Erkenntnis entzogen.
Bei Althusser wiederum scheint die
antispekulative Regel aus der Deutschen Ideologie
aufgegeben zugunsten einer an Platon erinnernden Verabsolutierung von Theorie.
Ebenso ratlos wie seine schneidende Unsichtbarkeitsthese lässt uns seine
Vorstellung der Sichtbarwerdung des Unsichtbaren:
>Um ^Das Kapital^^, also auch den ersten Band zu verstehen, muss man zu
einem ^proletarischen Klassenstandpunkt kommen^^, d.h. sich den einzigen
Gesichtspunkt aneignen, der die Ausbeutung der Arbeitskraft der Lohnarbeiter --
und das ist der Kapitalismus -- sichtbar macht.< (108)
Althusser kann darauf pochen, dass Marx uns das
Problem eingebrockt hat, weil dieser die Rede von der Unsichtbarkeit
aufgebracht hat. Vergewissern wir uns also an einigen Beispielen, welchen Sinn
die Rede von der Unsichtbarkeit bei Marx hat.
Erstes Beispiel: Marx bezeichnet die >Form
des Arbeitslohns<, in welche >Wert und Preis der Arbeitskraft<
verwandelt sind, als
>Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und
grade sein Gegenteil zeigt< (23/562).
Zweites Beispiel:
>Mehrwert und Rate des Mehrwerts sind, relativ, das Unsichtbare und das
zu erforschende Wesentliche, während Profitrate und daher die Form des
Mehrwerts als Profit sich auf der Oberfläche der Erscheinungen zeigen.<
(25/53)
Und gleich noch ein drittes Beispiel, diesmal
von der Einleitung zur marxschen Wertformanalyse,
wo es heißt:
>Man mag daher eine einzelne Ware drehen und wenden, wie man will, sie
bleibt unfassbar als Wertding.< (23/62)
Schauen wir uns zunächst dieses dritte Beispiel
näher an. Besagt die marxsche Bemerkung, der Tauschwert sei nicht empirisch
beobachtbar? Doch wie könnte dann die Wertformanalyse vor sich gehen? Wie kann
man etwas analysieren, das für die Sinne gar nicht existiert oder jedenfalls
existiert hat? In Wirklichkeit
ist der Tauschwert sehr wohl sichtbar, anders hätte er keine Wirklichkeit. Er
zeigt sich durchaus, bloß eben nicht an dieser Ware selbst, sondern in Gestalt
ihres Äquivalents. Unsichtbar, unfassbar, unfindbar scheint der Tauschwert
einer Ware einzig, solange man ihn wie eine Substanz in dem betreffenden Ding
sucht.
>Bisher hat noch kein Chemiker Tauschwert in Perle oder Diamant
entdeckt.< (98)
Was als >chemische Substanz< inexistent
ist, musste als Relation, als Tauschverhältnis gesucht werden, wie es ja auch
ein Verhältnis ausdrückt, das die privat-arbeitsteiligen Produzenten nicht etwa bewusst eingehen,
sondern gleichsam immer schon eingegangen sind. All die genannten Momente sind
sehr wohl empirisch untersuchbar.
In der Tat untersucht Marx den Tauschwert nicht
als Ding, sondern als Wirklichkeit = Wirkendsein. Und zwar nachbildend, dass es
von einem Warenbesitzer ausgeht, als Wertausdruck einer Ware -- d.i. als Satz, nicht
als Gleichung. >x Ware A ist y Ware B wert< ist der Sprechakt eines
Akteurs, der weiß, was er sagt, aber nicht wissen muss, was es ökonomisch
bedeutet. - Und wenn er es wüsste, so könnte er für dieses Wissen >nichts
kaufen<; es bliebe unwirkend = unwirklich.
Schauen wir uns nun das erste Beispiel an: Auch
die empirisch beobachtbare Lohnform zeigt an ihr selbst, solange man sie
isoliert, das >wirkliche Verhältnis<. Worin bestand noch einmal dieses
>wirkliche Verhältnis<, und woher wüsste ich, dass es wirklich ist, wenn
ich es nicht beobachten könnte? Aber wieder war die Frage falsch gestellt. Als
Verhältnis kann ich es sehr wohl beobachten. Die Lohnform für sich genommen,
ist nur ein Moment dieses Verhältnisses, nicht dieses in seiner Gegliedertheit
als Ganzes. Ich musste nur die einzelnen Vermittlungen durchlaufen, jede für
sich beobachtbar, um das prozessierende Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital
in seiner Wirklichkeit (und das
heißt Wirkendheit) zu erfassen.
Nehmen wir das Ende des vierten Kapitels:
>Die Konsumtion der Arbeitskraft, gleich der
Konsumtion jeder andren Ware, vollzieht sich außerhalb des Markts oder der
Zirkulationssphäre. Diese geräuschvolle, auf der Oberfläche hausende und aller
Augen zugängliche Sphäre verlassen wir daher, zusammen mit Geldbesitzer und
Arbeitskraftbesitzer, um beiden nachzufolgen in die verborgne Stätte der
Produktion, an deren Schwelle zu lesen steht: No admittance except on
business.< (189)
Offenbar wäre es Unsinn, blieben wir am Wort
kleben und würden Sichtbarkeit auf den Markt einschränken. Und ob die
Produktion und die Verhältnisse in der >verborgnen
Stätte der Produktion<
^sichtbar^^ sind! Das Problem ist höchstens der Zugang. Für Wallraff, der ihn
sich auf seine Weise verschafft hat, haben sich die Zustände hinter den
Fabriktoren offenbart. Auf den Markt bezogen sind ^Sichtbarkeit^^ und
^Oberfläche^^ nur Metaphern für Öffentlichkeit und allgemeine Zugänglichkeit,
während die Welten von Institutionen
wie Firmen und Familien usw. ^privat^^ sind. Und Privation ist Negation:
Ausschließung vom Gebrauch und vom Einblick.
Im zweiten Beispiel sagt Marx vom Mehrwert und
der Mehrwertrate, sie seien, >relativ, das Unsichtbare und das zu
erforschende Wesentliche<. Doch was soll eine relative Unsichtbarkeit sein?
Althusser überspringt die Relativierung und macht daraus:
>Wenn Marx vom [...] ^gesamten Mehrwert^^ spricht, so kann keiner ihn
mit den Händen greifen und zählen< (1973, 82).
Jetzt wird eine Art für sich geltender
Unfassbarkeit daraus. Doch Marx meint offenbar etwas anderes: im Vergleich mit
der faktisch feststellbaren Profitrate, insofern relativ, macht die
Untersuchung der dieser zu Grunde liegenden Mehrwertrate die Analyse von vielen
Mittelgliedern notwendig, ohne die
wiederum die in ihrer Isolation leicht beobachtbare Profitrate nicht begreifbar
ist. Im Kontext lautet die
Stelle bei Marx:
>Aus der Verwandlung der Mehrwertsrate in Profitrate ist die Verwandlung
des Mehrwerts in Profit abzuleiten, nicht umgekehrt. Und in der Tat ist die
Profitrate das, wovon historisch ausgegangen wird. Mehrwert und Rate des
Mehrwerts sind, relativ, das Unsichtbare und das zu erforschende Wesentliche,
während Profitrate und daher die Form des Mehrwerts als Profit sich auf der
Oberfläche der Erscheinungen zeigen.< (25/53)
Wieder fungiert >Oberfläche< als Bild für
Sichtbarkeit; das impliziert die Tiefe als Bild für Unsichtbarkeit. Jetzt
verstehen wir besser, was mit >relativer< Unsichtbarkeit gemeint ist. Wie
die Verhältnisse in der Produktion nicht an sich unsichtbar sind, sondern nur
vom Standpunkt des Marktes, so ist der Sinn auch hier, das, was ^unter der
Oberfläche^^ ist, ^sichtbar^^ zu machen. Von ^komparativer Unsichtbarkeit^^ zu
sprechen, hat den Sinn, das blendende Bild der ^Sichtbarkeit^^ zu reflektieren.
Denn die Rede von der Un/Sichtbarkeit ist nur ein Bild. Das Wesen, notierte
Brecht in seinen Reflexionen über die Verfilmung der Dreigroschenoper,
>ist in die Funktionale gerutscht<. Der Satz ist ebenso richtig wie
irreführend. Richtig ist, dass, was als Wesen vorgestellt wird, in der
Wechselwirkung mit anderen Dingen, Momenten, Instanzen zu untersuchen ist.
Irreführend ist an dem Satz, dass das erst jetzt in diese Dimension
>gerutscht< wäre und dass das nur für Brechts Beispiel, einen
kapitalistischen Konzern, gälte. Es ist wahr, dass es für diesen doppelt und
dreifach gilt. Aber nicht nur das Wesen eines Betriebes von, sagen wir, Siemens
ist nicht fotografierbar, sondern auch das eines Bechers, um ein von Popper
gebrachtes Beispiel aufzugreifen. Popper geht in dem empiristischen Bild, das
wir bisher von ihm gezeichnet haben, nicht auf, weiß er doch: >Beobachtung
ist stets Beobachtung im Licht von
Theorien< (Logik, 31, Fn. 1).
Die Feststellung >hier steht ein Becher< kann z.B. laut Popper durch
Erlebnisse nicht verifiziert werden, >weil die auftretenden Universalien
nicht bestimmten Erlebnissen zugeordnet werden können<, denn diese sind
immer nur einmalig (61). Was Popper dem Becher zugesteht - warum bleibt er es
demselben Becher schuldig, sobald er als Ware vor ihm steht? Hier taucht wohl,
in Gestalt der >Universalien<, ein verkleideter Platonismus beim
Platonkritiker Popper auf. Es hätte genügt, dass er statt auf die gespenstige
Sphäre der Allgemeinideen aufs Netzwerk sozialer Praxen und auf die Struktur
gesellschaftlicher Verhältnisse eingegangen wäre und womöglich gar >jede
gewordne Form im Flusse der Bewegung< (23/28) aufgefasst hätte, doch damit
hätte er die Grenze zur ebenso gefürchteten wie verfemten
geschichtsmaterialistischen Dialektik überschritten. Wittgensteins Regel, die
Bedeutung eines Wortes in seinem Gebrauch zu untersuchen, ist auch auf den
Becher zu übertragen. Dessen Gebrauch kann man vielleicht nicht erschöpfend
fotografieren; aber in einer Handlung als sprachlich kommunizierten Gebrauch
kann man ihn gut sichtbar machen und auch verfilmen. Wir werden deshalb nicht
sagen, der Becher sei als solcher unsichtbar.
Schauen wir uns zum Schluss noch ein viertes
Beispiel an. Im Urtext der Grundrisse
sagt Marx von der Zirkulation, also dem Beobachtungsfeld, auf das Popper uns
nötigen möchte, damit wir dort die Preisbewegungen in Abhängigkeit von Angebot
und Nachfrage untersuchen, um falsifizierbare Prognosen über Preise aufstellen
zu können:
>Die Zirkulation in sich selbst betrachtet ist die Vermittlung vorausgesetzter Extreme. Aber sie setzt diese
Extreme nicht. Als Ganzes der Vermittlung, als totaler Prozess selbst muss sie
daher vermittelt sein. Ihr unmittelbares
Sein ist daher reiner Schein. Sie ist das Phänomen eines hinter ihrem Rücken vorgehnden Prozesses.< (Gr, 920; II.2/64)
Die Zirkulation vermittelt Produktion mit
Reproduktion, d.h. mit individueller
und produktiver Konsumtion. Sie tut dies in einer Weise, die determiniert ist
durch die Produktionsverhältnisse.
>Als Ganzes der Vermittlung, als totaler Prozess selbst muss sie daher
vermittelt sein.<
Der nervus
rerum ist die Bildung des Mehrwerts durch die Lohnarbeit und seine
Aneignung durchs Kapital. Dies findet nicht in der Zirkulation statt.
>Es hat sich gezeigt, dass der Mehrwert nicht aus der Zirkulation
entspringen kann, bei seiner Bildung also etwas hinter ihrem Rücken vorgehn
muss, das in ihr selbst unsichtbar ist.< (23/179)
Die Anwesenheit dieses Abwesenden >hinter
ihrem Rücken< fasst Marx, indem er die Zirkulation als vermittelte
Vermittlung analysiert. Vermittlung ist ein Prozess,
für den gilt: >Die vermittelnde Bewegung verschwindet in ihrem eigenen
Resultat und lässt keine Spur zurück<. (107) Am Resultat ist dieser Prozess unsichtbar. Aber was heißt das
anderes, als dass er eben als das untersucht werden muss: als der Prozess, der er ist, der sich als eine
Kette beobachtbarer Vermittlungen darstellt, oder, in Althussers
spinozistischer Sprache ausgedrückt, als etwas, das >nur in seinen
Auswirkungen existiert< (DKL, II, 243). Wenn wir früher (XII.8) sagten, Marx
fasse den Aufbau (der Sache wie auch ihrer Darstellung) immer auch als
Sich-Aufbauen, als Prozess, so war es genau
das. Althusser erklärt daher den Begriff der Darstellung zum
>wissenschaftstheoretischen Schlüsselbegriff der ganzen marxschen
Werttheorie< (DKL, II, 253).[21]
Wo wir sagten, Forschung sei die Suche nach der Darstellbarkeit, heißt es bei
Christopher Arthur: >Wahrheit ist System von einem Standpunkt der
Darstellung aus< (2002, 26).
Anders als Althusser lesen wir die marxsche Rede von der >Unsichtbarkeit< im Sinne
Gramscis als kommunikations-bedingte Metapher. Hannah Arendt notiert in ihrem Denktagebuch: >Die platonische
Dichotomie geht zurück auf Finsternis –
Licht und dann auf sichtbar –
unsichtbar. Dies sind die ursprünglichen Gegensatzpaare.< (2002, 519) Die Rede von der Unsichtbarkeit
kippt, wenn sie sich nicht als Metapher zeigt, unversehens zurück in eine
platonistische Grammatik. Vernunft wird Unsinn, wo immer
eine solche Redeweise aus dem Fluss des Kommunikationsprozesses gerissen und
substanzialisiert wird.
Wir sind gut
beraten, zwar Althussers
hypostasierende Unsichtbarkeits-These nicht mitzumachen, doch ihr
Vernunftmoment zu retten, wie er es nicht im populär-proklamierenden Vorwort
zur Taschenbuchausgabe von Kapital I,
sondern in Das >Kapital< lesen
am Beispiel des Mehrwerts erklärt
hat: dieser ist >kein Ding, sondern der Begriff eines Verhältnisses, einer
gesellschaftlichen Produktionsstruktur, die, als sichtbare und messbare
Existenz, einzig in ihren ^Wirkungen^^
existiert< (LLC, II, 158; DKL, 243). Dass aber ein Begriff, in welchem wir
analytisch gewonnene ^abstrakte^^ Seiten eines komplexen Ganzen im Denken
wieder zusammenfassen, also jenes >Gedankenkonkretum<, von dem Marx
spricht (II.1.1/37; 42/36), weder anfassbar noch sichtbar sei, wird als Aussage
den Unsinn, der dabei negiert wird, nicht los. Unumgänglich ist das Moment der
Disziplin, am Vielseitigen zunächst eine Seite abstraktiv festzuhalten und für
sich zu studieren, ebenso die korrigierende Gegenbewegung, die denkökonomisch
angesagte Isolierung dieser einen Seite nicht in die metaphysische Falle gehen
zu lassen, ihr ein inneres Wesen zuzuschreiben. Wir versuchen ja, das
Empirische als Ganzes zu begreifen, doch unsere Vorstellung davon bleibt
unweigerlich verworren, solange wir es frontal angehen. Totalität gibt es
nicht unmittelbar. Wir sind auf zwei gegenläufige Prozesse angewiesen, den des gedanklichen Auseinandernehmens und
den komplementären >Prozess der Zusammenfassung< der Bestimmungen alias
der Konkretisierung im Denken (36; 35). Lefebvre und Sartre sprechen >nicht
zu Unrecht< von der >progressiv-regressiven Methode< bei Marx (Schmidt
1968, 38). Doch weder kann die Zusammensetzung der herausanalysierten
Bestimmungen wie bei einem mechanischen Baukasten erfolgen, noch sind die
beiden Prozesse des
Auseinanderlegens und der Zusammensetzung voneinander zu trennen.
>Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Momenten< ist >der Fall bei
jedem organischen Ganzen< (35; 34), gilt auch von den Momenten der Erkenntnisgewinnung. Es ist Zeit, dass wir uns der konkreten Epistemologie des Kapital zuwenden. Zu untersuchen ist sie an der ^entwickelnden^^
Darstellung.
[1] Siehe dazu die Notiz zur Neufassung des ersten Teils der Vorlesungen (2005, 13), sowie V.8, Fn. 22.
[2] Backhaus sieht in der >fatalen
Überarbeitung der Wertformanalyse der Erstausgabe< eine >von Marx selbst bewirkte Vulgarisierung
seiner Werttheorie, ihre Regression zur ricardianischen<, wodurch der
Zusammenhang zwischen Wert- und Geldtheorie >bis zur Unkenntlichkeit
entstellt worden< sei (1997, 293).
[3] Adolf Bauer u.a. heben >aus der
Gesamtheit des Seins< eine >Seinssphäre< und eine >Bewusstseinssphäre< heraus (1974, 26). Vgl. dazu
kritisch PIT 1979, 86ff.
[4] Vgl. meinen Artikel >Historisches /
Logisches< in: HKWM 6/I.
[5] Diese Saga beginnt 1897 mit Paul Barth:
>In der Hegelschen Philosophie gebildet, musste [Marx] alles unwissenschaftlich finden, was nicht aus einem
einzigen Prinzip ^logisch^^ die besonderen Bestimmungen und Momente
ableitete< (1897/1915, 631). Ohne es zu merken, umschreibt Barth damit recht
genau, wogegen Marx zunehmend gereizt zu Felde zieht.
[6] In der Entdialektisierung der Kritik der
politischen Ökonomie durch Kautsky
(1886) sieht Hans-Josef Steinberg das Geheimnis der breiten internationalen Rezeption
von dessen Kapital-Popularisierung
(1980, XVIIf); die Rehegelianisierung der Kapital-Lektüre v.a. durch
Backhaus (1969) und Reichelt (1970) münde dagegen >in einen neuen
^Mystizismus^^, der auf der Grundlage eins philosophisch-soziologischen
Kauderwelschs die Inhalte des ^Kapital^^ wieder zur Geheimwissenschaft werden
lässt, so dass die Arbeiter und Angestellten […] wieder meinen können, vor einem Buch mit sieben Siegeln zu stehen<
(XVIII).
[7] Den Realitätsbezug dieser >logischen Ordnung< bestimmt Bidet so: sie >übersetzt in der Tat die reale Beziehung zwischen den
unterschiedlichen architektonischen Ebenen der realen Gesellschaft< (188).
Was >Übersetzung< hier meint, werden wir seinerseits für uns zu
übersetzen haben.
[8] Ohne sich auf Unterschiede einzulassen und obwohl
ihm völlig klar ist, dass Marx nie von logischer, sondern von theoretischer,
analytischer Methode gesprochen hat, sind für den sowjetischen Philosophen Mark Rosental >dies hier alles
nur Synonyme<, die >eine Seite […] der materialistischen Dialektik<
darstellen (1955/1969, 466). Den Primat hat hier die von Engels autorisierte
Benennung; der Rest ist scholastische Subsumtion unter diesen Namen. Man ahnt,
dass die ^sowjetisch^^ sanktionierte
Rede von der >logischen Methode< sich unerkannt noch heute fortsetzt bei
Autoren, die von dieser ihrer Vorgeschichte nichts wissen wollen.
[9] Während Backhaus meint, >dass […] der Wert […] sich gar nicht ausdrücken
lässt, sondern nur in verkehrter Gestalt ^erscheint^^, nämlich als
^Verhältnis^^ von zwei Gebrauchswerten< (1969, 131), übergeht Löhnberg den >Wertausdruck< und
macht aus der genetischen Rekonstruktion der Geldform >die Entwicklung des
Warenaustausches in der Wirtschaftsgeschichte< (1975, 52).
[10] Den Wertausdruck einer Ware fasst Korsch
folglich als von Marx >deduktiv aus dem vorausgesetzten Begriff des ^Werts^^
abgeleitet […] als seine ^notwendige Erscheinungsweise oder
Erscheinungsform^^< (1932, GA 5, 545f). Kein Wunder erscheint ihm die
Wertformanalyse als Rezeptionsbarriere, die >mehreren Generationen von
Marxlesern […] den Zugang zu dem eigentlichen Inhalt des
^Kapital^^ versperrte< (546).
[11] Heinz Paragenings behauptet merkwürdigerweise:
>In der marxistischen Theorie ist nie die Frage gestellt worden, warum die
Äquivalenz die sonderbare Polarität von relativer Wertform und Äquivalentform
aufweist. Aus dem bloßen Begriff der Äquivalenz lässt sich diese Form gewiss
nicht ableiten.< (1999, 235)
[12] So übernehmen es dann Wolf und
Paragenings 2004, 81.
[13] >Als logische Konstruktion folgt die Darstellung
keineswegs einfach dem Gang der Geschichte.< Sie beschreite >im Gegenteil
[…] den umgekehrten Weg< (Schmidt 1968, 37f).
[14] Gewesene Geschichte und zugleich >eine der historischen Bedingungen und
Voraussetzungen des Städtewesens< ist >z.B. das Weglaufen der Leibeignen
in die Städte<; doch diese Flucht aus Feudalverhältnissen ist >kein
Moment der Wirklichkeit des ausgebildeten Städtewesens, sondern gehört zu
dessen vergangnen Voraussetzungen, den Voraussetzungen seines Werdens,
die in seinem Dasein aufgehoben sind< (42/372). Marx unterscheidet >die
Bedingungen und Voraussetzungen des Werdens, des Entstehns des
Kapitals< von diesem Werden oder
Entstehen selbst (ebd.) – eine Unterscheidung, in der wir ihm folgen.
[15] Im Blick auf antikapitalistische Praxis fügt
Balibar hinzu, wir müssten >zugeben, dass die Notwendigkeit des
Kapitalismus, kontinuierlich seine eigenen Produktionsverhältnisse zu
transformieren, auch die Möglichkeit einer sozialen Praxis ist, die dem
^System^^ inkompatibel ist< (1994, 38).
[16] Frontal dagegen stellt sich der
^Spinozist^^ Althusser: >Wir
betrachten das Resultat ohne sein Werden<;
diese Betrachtungsweise >befreit uns von der empiristischen Ideologie der
Geschichte< (DKL 90; LLC, I, 86). M.a.W.: >die Erkenntnis dieser Gesellschaft wird nicht durch die Theorie von der Entwicklung dieses Resultats
vermittelt, sondern ausschließlich […] von der aktuellen Struktur der
Gesellschaft aus, ohne dass deren Genese, zu welchem Zweck auch immer, in Erscheinung träte<
(86; 82). An diesem unvermittelbaren Dualismus krankt Althussers Kapital-Lektüre.
Hier kippt einer das Kind mit dem Badewasser aus. Derselbe Dualismus schlägt
auch seinen – an sich dringend nötigen – Kritikbegriff der empiristischen
Verkennung mit dogmatischer Unfruchtbarkeit. – Indem Althusser das Werden und Weiterwerden des
Kapitalismus aus seiner Theorie aussschließt, verdrängt er zugleich die >Punkte,
an denen die Aufhebung der gegenwärtigen Gestalt der Produktionsverhältnisse –
und so foreshadowing der Zukunft, werdende Bewegung sich andeutet< (42/373).
[17] Auf der Spur der populären, aber theoretisch
falschen Reduktion von Ausbeutung auf >unbezahlte Arbeit< – als würde,
streng genommen, je Arbeit und nicht etwa Arbeitskraft bezahlt – meint
Karl-Heinz Roth, dass das Kapital den Arbeitskräften >einerseits
ihre Reproduktionskosten erstattet, andererseits aber einen unbezahlt
bleibenden Teil des geleisteten Arbeitsvolumens (Mehrwert) vorenthält<
(2005, 51).
[18] >Toute science repose sur sa théorie propre […]
C'est un système de concepts
scientifiques de base. […] Ces concepts sont des concepts, c'est-à-dire des
notions abstraites. […] Attention:
L'abstraction scientifique n'est pas du tout ^abstraite^^, tout au
contraire.< (10)
[19] Soldani (2002) übersteigert diese
Formulierungen: Die >empirischen Existenzweisen< der Phänomene machen es
ihm zufolge >unmöglich, ihre Ursache zu sehen<, und indem >in der
Konkurrenz alles verkehrt< erscheint (Marx), ist es etwa >unmöglich, die
preisregulierende Funktion des Werts in seiner Bestimmung der Preisbewegungen
mit der Hand anzufassen oder mit mathematischen Formeln zu berechnen<
(>che sia impossibile poter toccare con mano, o computare a traverso formule
matematiche, la funzione regolativa del valore nel determinare i movimenti dei
prezzi<; 215). Er übersieht, dass das ^Berechnen^^ genau dort gefragt ist,
wo die unmittelbare Sinneswahrnehmung versagt.
[20] Er könnte hinzufügen: >Im übrigen sind
Gesamtbegriffe bzw. ^Holismen^^ als solche unzulässig.<
[21] Alfred Schmidt erklärte 1968, auf
Althusser verweisend, mit dem richtigen Verständnis des Darstellungsbegriffs
stehe und falle das Verständnis der marxschen Methode (1968, 36). Darstellung tritt nicht zum Stoff hinzu: >Indem
sie dessen historische Dynamik aufdeckt, ist sie das Existenzmedium der
kritisch-dialektischen Theorie:
^Analyse^^ im höheren Sinne.< (37)