Stirb
und werde: vierzig Jahre DAS ARGUMENT
Theoriezeitschrift der kritischen
Intellektuellen
Editorial zu DA 230, 41. Jg., 1999, H. 2/3
Vor vierzig Jahren entstand
diese Zeitschrift, indem an eine streitbare Flugblattreihe gegen Atomrüstung sich immer mehr Aktivitäten
und Erwartungen ankristal-lisierten. Nach sieben
Jahren entpuppte sie sich explosiv als führende Theorie-zeitschrift der Studentenbewegung. Mit den politischen Veränderungen
hat sie sich wieder und wieder gewandelt, nicht selten durch schwere Krisen
hindurch, doch in entscheidender Hinsicht auch eine ungebrochene
Kontinuität gewahrt.
1. Rückblicke
Schon im ersten Jahr
machte DAS ARGUMENT einen Sprung von den Flugblättern der
Studentengruppe gegen Atomrüstung zu den breit interessierten Berliner Heften für Politik und Kultur. Mit der Heftform taucht folgendes Programm auf:
DAS
ARGUMENT geht
davon aus,
dass es die gemeinsame Aufgabe der Intellektuellen ist,
die Wahrheit zu suchen und auszusprechen
dass die Resignation zum geistigen Spezialarbeiter
einen Verrat an dieser Aufgabe bedeutet
In Form und Inhalt
sichtlich von Brecht inspiriert, bezeugt der Text auch, dass die Verfasserin, Margherita von Brentano, ebenso von
Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung beeinflusst
war, aber ohne in Lähmung zu verfallen. Dieses konzise kleine Intellektuellenmanifest vom Ende der fünfziger
Jahre beschreibt noch immer wesentliche Züge der Praxis dieser
Zeitschrift:
DAS ARGUMENT
hält es für notwendig,
angesichts der
Bedenklichkeit
des Aussprechens der Wahrheit
die Wahrheit zu bedenken und auszusprechen
angesichts der
Schwierigkeiten
beim Schreiben der Wahrheit
diese Schwierigkeiten durch Schreiben der
Wahrheit zu bekämpfen
angesichts des Scheiterns
der Aufklärung
die Gründe
dieses Scheiterns aufzuklären
angesichts der
Erfahrung,
dass
das Wirkliche nicht schon das Wahre ist,
die Wirklichkeit wahrzunehmen
angesichts der
Erfahrung,
dass
Erkenntnisse nicht schon Argumente sind
Erkenntnisse zu Argumenten zu
machen
Nichts davon hat sich erledigt. Verglichen mit der
späteren Praxis fällt allenfalls eine fast >geistesaristokratische<
Selbstbezogenheit der kritischen Intellektuellen auf. Obwohl
aus einer Bewegung, der Antiatombewegung, entstanden, gibt es für den Bezug auf diese und die
Praxisperspektive keine Worte.
Bei der nächsten Etappe, dem Übergang zur
Herstellung im Buchdruckverfahren im Frühling 1960 unter der verlegerischen
Leitung von Christoph Müller-Wirth, spricht sich der angestrebte Bezug zum Politischen
in schlichter Deutlichkeit aus. Man solle nicht »befürchten, dass das seriöse Äußere das Anzeichen einer Kommerzialisierung unseres Unternehmens ist. […] Es bleibt ein politisches, das seinen Zweck außerhalb deiner
selbst hat und wofür DAS ARGUMENT nichts ist
als ein Mittel unter anderen. DAS ARGUMENT will weiterhin keine Ware sein,
sondern eine Waffe.« (Argument 19) Dieses so militant
daherkommende Konzept versammelte immerhin Mitherausgeber wie Günther Anders
und Axel Eggebrecht, Ossip K. Flechtheim und Dietrich Goldschmidt, Helmut Gollwitzer und Propst Heinrich Grüber, den Studenten Thomas
Metscher und seine beiden Lehrer Wilhelm Weischedel und Rudolf Sühnel, den Kabarettisten Rolf Ulrich und den
Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre, um nur einige der Bekanntesten zu nennen. Die Zeitschrift war winzig. Das zitierte
Heft erschien in einer Auflage von 700 Exemplaren.
Die nächste Wandlung bereitete sich dadurch vor,
dass in der Inkubationszeit der Studentenbewegung – im Blick auf den Pariser Mai könnte man sagen: im
Vormai – eine Gruppe aus dem Umfeld von
Wolfgang Abendroth und Werner Hofmann an der marburger Universität zu der Zeitschrift stieß, während sich gleichzeitig
Kontakte zur jüngeren Generation am Frankfurter Institut für
Sozialforschung herstellten. Zum wichtigsten Vorbild des Zeitschriftenmachens
war für die berliner Gruppe die von Max Horkheimer in den dreißiger
Jahren herausgegebene Zeitschrift für Sozialforschung geworden.
Diesem Vorbild wurde vor allem der Rezensionsteil nacherfunden.
So wurde 1966 der nächste Sprung vollzogen: die Zeitschrift erklärte .sich
zum Organ der sozialkritischen Akademiker, die breit gestreute Mitherausgeberschaft der ersten Jahre zurücklassend. Im
Editorial zum ersten Heft des 8. Jahrgangs 1966 heißt es: »Das ARGUMENT wird
von (vorwiegend jungen) Wissenschaftlern gemacht,
als wissenschaftliche Zeitschrift. Wissenschaft ist, so sehr es viele
ihrer Vertreter leugnen mögen, innerlich nie unpolitisch, sondern vielmehr
selber ein gesellschaftliches Verhältnis. Entscheidend für den hier angestrebten Begriff von Wissenschaft ist der
Versuch, diese ihre Dimension mitzureflektieren.« Die folgenden zehn Jahre brachten einen kometenhaften
Erfolg. Die Auflage vervielfachte sich. Auch die früheren Hefte wurden
immer wieder nachgedruckt.
Der Rückenwind, den das
Zusammentreffen von Studentenbewegung und Hochschulreform
für die Zeitschrift bedeutete, bewirkte mit der zeitlichen Verzögerung des massenhaften Bildungsprozesses einer
akademischen Intelligenz neuen Typs
den nächsten Sprung: die Fülle der eingehenden Manuskripte entlud sich zuerst in Argument 50 als voluminöser Sonderband, Kritik
der bürgerlichen Sozialwissenschaften, dem bald nicht weniger
umfangreiche Bände über Medizin, Pädagogik und Geschichte folgten. Damit war
die Bezeichnung entstanden, die schließlich 1976 einer noch immer bestehenden
Buchreihe mit inzwischen weit über zweihundert Titeln den Namen gab:
Argument-Sonderbände.
Aus der Zeitschrift im Selbstverlag war ein Verlag mit
schließlich vier Zeitschriften und einer wissenschaftlichen Taschenbuchreihe geworden. Andere Aktivitäten kamen
hinzu –von der gelegentlichen
Konzertagentur mit Buch- und Schallplattenproduktion bis hin zur
Gründung der Berliner Volksuniversität.
Um 1980 wurde es nötig, das Argument-Konzept zu reformulieren, schon um den Zusammenhang dieser ausgefalteten Aktivitäten deutlich zu machen. »Das Verlagsprogramm«, heißt es nun, »soll der
Entwicklung der theoretischen Kultur der
Linken dienen. Wissenschaftliche Zuarbeit zu den
sozialen Bewegungen: den Kräften der Arbeit, der Wissenschaft und der
Kultur, der Frauenbefreiung, der Naturbewahrung und der Friedensbewegung. Zuarbeit zu einem sozialistischen Projekt, das diese
Bewegungen aneinanderlagert.« In Gestalt der
Automationsforschung wurde dem Auftauchen der hochtechnologischen
Produktionsweise besondere Aufmerksamkeit
geschenkt; Ideologieforschung, Aufnahme der Kulturforschungen vor allem
des CCCS Birmingham mit Stuart Hall, die Kritische Psychologie um Klaus Holzkamp und nicht zuletzt die Frauenforschung
bildeten die wichtigsten untereinander kommunizierenden Projekte. Als
Funktion des ARGUMENT wurde die Verbindung
der einzelnen Projekte verstanden. Die Zeitschrift,
hieß es nun, »dient der Entwicklung des allgemeinen Wissens- und
Diskussionszusammenhangs«. Erneuerung des Marxismus war von jetzt an eine übergreifende
Parole, die das ARGUMENT schließlich aus dem Bündnisumfeld der an der SU
orientierten Kommunisten
herauskatapultierte. Die Berliner Volksuniversität mit ihren vielen Nachgründungen der ersten Jahre -- Zürich,
Hamburg, Göttingen u.v.a.m. -- versah Themen und Autoren der Zeitschrift mit einem
außerakademischen Resonanzboden. Seit
1983 läuft die kritisch-marxistische Wörterbucharbeit neben der Zeitschrift
her.
Eine
strukturelle Veränderung der Zeitschrift selbst drückte sich 1982 in der Gründung
der autonomen Frauenredaktion aus. Sie ist die Konsequenz aus der überall zu machenden Erfahrung, dass im
Selbstlauf selbst bei bestem Willen sich
an der männlichen Dominanz nichts je wirklich ändert. Seither wird jeder
dritte Heftschwerpunkt von der Frauenredaktion
erstellt. Als Nebeneffekt erbrachte diese Ausdifferenzierung die Erfindung der ersten feministischen Krimireihe in
deutscher Sprache, Ariadne, deren
stürmischer Erfolg innerhalb weniger Jahre den Argument-Verlag zu einem feministischen Literaturverlag mit einem
nur mehr ein Viertel des Umsatzes
bestreitenden Theoriesektor machte. Das Konzept entstammte nicht nur
der internationalen sozialen Frauenbewegung, sondern leitete sich zugleich von Antonio Gramscis Forderung her, den
Alltagsverstand als Adressaten der Veränderung zu begreifen.
Mit der sowjetischen Wende zur Perestrojka rückte
für zwei Jahre das östliche Umbau- und Demokratisierungsprojekt ins Zentrum des
Interesses, bis der Zusammenbruch die überschießenden Hoffnungen dieser Zeit enttäuschte.
2. Krisen
Gäbe es ungebrochene Erfolgsgeschichten,
unterschiede sich die des ARGUMENT allein schon durch ihre periodischen Krisen.
Abgesehen von zweimal sieben fetten Jahren – die ersten der Studentenbewegung, die zweiten der Frauenbewegung
verdankt — zieht sich der basso continuo des Kampfes mit Finanznöten durch die Editorials. Auch von politisch-personellen
Spaltungen blieb die Zeitschrift nicht verschont. Der Moment des größten
Aufstiegs, als die Studentenbewegung zur größten sozialen Bewegung der
Nachkriegszeit anzuschwellen begann, riss das Personal der Zeitschrift
auseinander und verteilte es auf die rivalisierenden Tendenzen, wo eine Zeit lang fast überall ehemalige »Argumentler« an führender Stelle wieder auftauchten. Das
Abebben der Studentenbewegung, das mit der Zeit der Verfestigung der Aktivisten in einander erbittert bekämpfende
politische Parteien zusammenfiel,
konnte ein »ökumenisches« Linksprojekt wie das ARGUMENT nicht unbeschadet lassen. Nach einer Phase —
ungewollt durch das Wegbrechen linksliberaler Kreise entstandener — einseitiger
Bindung ans Umfeld der DKP, riss die Krise des
Staatssozialismus dessen Sympathisanten aus dem Verbund, begleitet von einer
Abbestellungskampagne. Den nächsten Aderlass bereitete die Rezeption neuerer Tendenzen
von Lacan bis Foucault, die, als kritische Aneignung
im Sinne marxistischer Selbsterneuerung begonnen, eine weitere
Gruppierung davontrieb, diesmal in den Postmarxismus, den
Wind des Zeitgeistes im Rücken.
Obwohl der Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus
die Perspektive des »Pluralen Marxismus« als einzige übrig ließ und die
eigentlichen Tragödien, Brüche und Pervertierungen im Weltmarxismus sich viel früher ereignet hatten,
war der »Geschichtsbruch« von 1989-91 begleitet von einer Welle allgemeiner
Enttäuschung, die desto tiefer reichte, als
sie von den einfachen Menschen ausging, nicht zuletzt von den
Arbeiterklassen.
An der generellen Orientierung des ARGUMENT änderte
sich kaum etwas, am Umfeld und an den Wirkungsbedingungen jedoch blieb kaum
etwas beim Alten. Aus
dem vormals staatssozialistischen Osten wuchsen der Zeitschrift zunächst fast überhaupt keine Kräfte von einiger Dauer zu,
allen Versuchen zum Trotz. Erst jetzt,
zehn Jahre nach dem Beitritt, bahnt sich ein Wandel an. Der Resonanzboden der
Volksuniversität schrumpfte und ging schließlich verloren; allerdings entstand
etwa zur selben Zeit im Gegenzug aus dem Gramsci-Editionsprojekt
und der weltweit verzweigten Arbeit am Historisch-kritischen Wörterbuch des
Marxismus das Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT), dessen Beirat mit einer Legion d'honneur der engagierten Intelligenz dieser Zeit verglichen worden ist. Das
vorliegende Heft dient der
Vorbereitung der dritten internationalen InkriT-Tagung
und spiegelt thematische Ausrichtung und personelle Trägerschaft.
Trotz solcher erfolgreichen Neugründungen und
Projekte der neunziger Jahre bedeutete die Zeit der neuen deutschen Einheit für die Situation der
Zeitschrift und des Verlags zunächst einen
Hindernislauf von Schwierigkeiten, zu beginnen mit den ökonomischen, die
auch Ausdruck einer epochalen Enttäuschung war. Keine Ware, sondern eine Waffe sein zu wollen, in allen Ehren! Aber auf
dem Markt tat sich die Ware ARGUMENT
zunehmend schwer. Das Projekt drohte in die Armutsfalle zu geraten.
Personell nicht weniger erodiert als die gesellschaftlichen Auftreffstrukturen
es sind, in einem Umfeld geschwächter oder gar geschwundener sozialer Bewegungen, einer audiovisuell und
warenästhetisch über ein Gewimmel von Fernsehkanälen, bei den Jüngeren
durch Computerspiele und Internetsurfen geprägten
Kultur, eines neoliberal sich artikulierenden neuen Sozialdarwinismus, einer zunehmend zum Dienstleistungsbetrieb der
»Wirtschaft« umfunktionierten Universität, stürzte
das Projekt in eine Krise. Je schwächer die Kräfte und je geringer die Mittel wurden, desto größer die Fehlerquote. Je mehr die
neuen Bedingungen nach neuer
Verständigung der Beteiligten, nach Grundsatzdiskussionen und nach
Konsultationen des Umfeldes verlangten, desto weniger Zeit und Kraft stand
dafür zur Verfügung. Umgekehrt proportional zur Not nahm die in solcher Lage
entscheidende Ressource ab, der gemeinsame Vorrat an Einsichten, Motiven und Haltungen. So kam es zum nächsten Exodus aus
der sogenannten »allgemeinen Redaktion« (nicht
aus der Frauenredaktion, die ihre Krise und Erneuerung, mit Zugewinn an Zahl
und Kompetenzen, vier Jahre zuvor durchgemacht hatte und sich seither weiter
verjüngt hat). Weiterzumachen wie bisher war unmöglich. Die Feier zum 40.
Geburtstag wurde, kaum angedacht, wieder abgesagt. Personelle zugleich mit konzeptioneller Erneuerung war zur
Überlebensfrage geworden. Wieder einmal hieß es stirb und werde.
3. Personelle
Erneuerung
Personell geht die Redaktion mit zunächst
vier neuen Mitgliedern ins fünfte Jahrzehnt der Zeitschrift: Die Psychologin Christina
Kaindl (Jg. 1971) wurde bereits vorgestellt
(Argument 228). – Mario Candeias (Jg.
1969) hat 1995 sein Politikstudium am Otto-Suhr-Institut
der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über europäische Regionalpolitik
abgeschlossen, ist Lehrbeauftragter am OSI
und arbeitet an seiner Dissertation; er wird den Bereich Politische
Ökonomie betreuen; zum vorliegenden Heft hat er Bemerkungen zum
Jugoslawienkrieg beigesteuert. – Peter »Nancy« Wagenknecht (Jg. 1966) hat
an der berliner Humboldt-Universität
Sozialwissenschaften studiert und interessiert
sich besonders für Stadt- und Regionalsoziologie, DDR-Forschung und Queer Theory; schon seit Argument
217 (November 1996) hat er den Rezensionsteil Politik und Soziale Bewegungen
mitgestaltet, was für ihn nicht nur Thema,
sondern auch praktisches Arbeitsfeld in mehreren politischen Gruppierungen war. – Tilman Reitz (Jg. 1974), dessen
Interessengebiete u.a. Kunst und Kritische Theorie sind, hat sein Philosophiestudium an der Freien Universität
Berlin mit einer Magisterarbeit über
»Bürgerlichkeit als Haltung« abgeschlossen und bereitet jetzt in Heidelberg seine Dissertation vor; das
vorliegende Heft hat er, abgesehen von seinen beiden Beiträgen, als
kommissarischer Redaktionssekretär technisch bearbeitet und das Editorial
verfasst; seit Heft 229 betreut er den Rezensionsteil Philosophie. Darin, dass
drei der vier neuen Redaktionsmitglieder als Rezensionsredakteure begonnen haben, drückt sich die Entschlossenheit aus, nicht
zuletzt auch diesem Bereich der Zeitschrift neue Energie und Initiative
zuzuführen.
Zugleich mit dieser
Verjüngung der Redaktion haben wir ihre breitere Verankerung in der
Universitätslandschaft in Form von vier »strategischen Allianzen« angebahnt: mit den Forschungsbereichen von Georg W. Auernheimer
(Universität Köln), Frank Deppe (Universität Marburg), Joachim Hirsch
(Universität Frankfurt/M) und Lars
Lambrecht (Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg) gemeinsam mit
Karl Hermann Tjaden und Margarete Tjaden-Steinhauer
(Gesamthochschule Kassel).
Wir versprechen uns davon eine Beteiligung an der
Heftplanung mit dezentraler Realisierung von Themenschwerpunkten, sowie
Mitwirkung am Rezensionsteil.
4. Konzeptionelle
Perspektiven
Jost Hermand hat die Entstehung des
ARGUMENT in den Kontext der »Kulturgeschichte der Bundesrepublik« eingeordnet (1986). Ein historischer Faktor ist diese Zeitschrift mit
ihren Tausenden von Autorinnen und Autoren zweifellos
geworden. Aber ist sie auch heute
noch geschichtlich im Sinne des Hineinwirkens in die Geschichte im Werden? Eine Zeitschrift ist dies nur, wenn sie sich zur
Schrift ihrer Zeit macht. Sie muss versuchen, deren Latenz ins Manifeste
zu heben. Den Zeitgeist zu verdoppeln, mögen andere besorgen. Marxistische
Traditionspflege liefe auf ein Archiv für Vergangenes hinaus. Eine lebendige
Zeitschrift, die sich unter anderem in der Nachfolge von Marx versteht, muss
dazu beitragen, den noch kaum gedachten Formativkräften
einen Namen zu geben und an der Entwicklung einer Sprache für ihre Analyse mitzuwirken. DAS ARGUMENT kann dies wiederum nicht in der Art einer Fachzeitschrift, sondern nur
in einer die akademischen Disziplinen übergreifenden
Form tun, indem es die arbeitsteilig auseinandersortierten Spezialisten in
Anstrengungen des Zusammendenkens assoziiert.
Um uns darüber klar zu werden, worin die spezifische Aufgabe dieser Zeitschrift heute bestehen kann, stellt sich uns die
Frage nach den aktuellen und potenziellen Adressaten und Subjekten der
Zeitschrift. Die Fachidioten, »Brotgelehrten« (Schiller) und »Kopflanger« werden sie nicht lesen. Schwieriger ist es,
von einem andern Imaginären Abschied zu nehmen: dem Ideal der allseits
interessierten sozialistischen Persönlichkeit und der Illusion, ihr ebenso
allseitig Analysen und Reflexion der sich wandelnden gesellschaftlichen Wirklichkeit zugänglich zu machen. Auch die
Orientierung auf soziale Bewegungen ist nicht immun gegen solche Imaginarität:
nicht nur, weil Bewegungen als solche nicht
lesen, sondern auch weil sie nichts Permanentes sein können.
Die Adressaten einer solchen Theoriezeitschrift können nur die kritischen
Intellektuellen sein. Für eine Intellektuellenzeitschrift (im weiteren Sinn von
Gramscis Intellektuellenbegriff) der Linken verbietet sich aber der Intellektualismus abgehobener Diskussionen. Für
sie gilt, mutatis mutandis,
was Brecht von der Kunst sagt: Sie muss autonom gegen Indienstnahmen
sein, aber nicht autark, nicht
interesselos, sondern engagiert in den Kämpfen ihrer Zeit, aus ihnen
Stoffe und Kräfte schöpfend.
Als thematische Brennpunkte kommen nur die
krisenhaften und umkämpften Umbrüche unserer Zeit auf den verschiedenen
gesellschaftlichen Ebenen in Frage. Zu denken ist der entfesselte Kapitalismus, der
sich nicht mehr gegen ein Anderes verteidigen muss und deshalb, schutzlos sich selbst
ausgeliefert, ungehemmt aus- und angreift. Zu denken ist der Übergang zur hochtechnologischen
Produktionsweise und die Formen, in denen er in den unterschiedlichen
Realitätsebenen vonstatten geht. Zu
analysieren ist, dass und wie dieser Übergang unter neoliberaler Hegemonie erfolgt, was nichts anderes heißt, als
unter der Dominanz der »Marktinteressenten«
(Max Weber) oder Konkurrenzgewinnler. Zu denken sind die unterschiedlichen Kriegsmuster neuen Typs, in die sich die entfesselte
Konkurrenz fortsetzt. Zu denken ist der Umbruch in
den Repräsentationsweisen und die Ausdrucksformen der »Globalizität«,
wie die sonderbare Wortprägung des Bundespräsidenten Roman Herzog lautet. Zu befördern ist
die Herausbildung europäischer Intellektualität, um zugleich den unbewussten Eurozentrismus in bewusster
Selbstrelativierung aufzulösen. Zu fördern ist schließlich die globale
Zirkulation von Konzepten und Erfahrungen kritischer Intelligenz: man mag am
vorliegenden Heft beobachten, was das heißen kann.
Was die Veröffentlichungspolitik angeht,
so werden wir alles privilegieren, was die gegenwärtigen Umbrüche in ihren
Widersprüchen und womöglich in der Perspektive der Steigerung linker
Handlungsfähigkeit zu denken erlaubt. Gefragt sind
Beiträge, die Kritik und Widerstände verknüpfen wie Rosa Luxemburg dies im
Material ihrer Zeit einmal praktiziert hat.
Die konzeptionelle Erneuerung der
Zeitschrift kann (und muss) nicht ab
ovo anfangen: Es gibt keine einfache Formel, sondern
ein Funktionenbündel und eine differenzierte
Servicestruktur, die ausdrücklich weitergeführt werden sollen.
Dass selbst kontinuierlich Fortgeführtes
in veränderter Situation einen Bedeutungswandel durchmacht, lässt sich an den
Begriffen »Philosophie und Sozialwissenschaften« aus dem Untertitel der
Zeitschrift ablesen. Das war einmal der Name des Fachbereichs, der wie kein
anderer an der Freien Universität Berlin zum geistigen Laboratorium der
Studentenbewegung und dem von ihr angestoßenen Reformaufbruch unter der
akademischen Intelligenz wurde. Die Studentenbewegung ebbte weg, die wenigen Stützpunkte im Lehrkörper als sonderbare Solitäre
zurücklassend. Die Restauration hat ihn, der bereits von innen heraus an
seinen enttäuschten Illusionen erodierte, zerschlagen. Erst recht krähte kein
Hahn mehr nach den Ideen jenes Aufbruchs, als just zum Ende des 40. Jahrgangs
dieser Zeitschrift das Institut für Philosophie, an dem sie gemacht wird,
zusammen mit den neusprachlichen Philologien in den dafür gebildeten Fachbereich für »Philosophie und Geisteswissenschaften«
gesteckt wurde. Die Kritische Psychologie kam zur Sportwissenschaft,
nachdem man Klaus Holzkamps Lehrstuhl kassiert hatte.
Sind wir wieder im 19. Jahrhundert
gelandet? Blüht den akademischen Intellektuellen
etwa die Vergangenheit in der Zukunft, Mandarine neuen Typs zu werden? Aber
nein, nichts kehrt wieder außer den Namen und dem Krieg, der ein anderer
geworden ist. Was in den »Geisteswissenschaften« anzukommen beginnt, ist der Markt. Angesagt ist die kulturelle Supply-side-Economy.
Die Geisteswissenschaftler sollen zu
Anbietern auf einem Markt werden, dessen effektiver Nachfrage sie ihre
Angebote anzumessen haben – die nächste zerstörerische Illusion des
Marktfetischismus. Die kritische Reflexion dieses Prozesses soll zu den
Aufgaben des ARGUMENT gehören.
So treten wir ins
fünfte Jahrzehnt ein mit der Absicht, auch diesem seine Schrift zu
liefern. Weiterhin soll das ARGUMENT »keine Ware, sondern eine Waffe« sein; doch wenn die Ware nicht realisiert
wird, ist die Waffe stumpf, darum rufen wir nicht nur zur Mitarbeit auf,
sondern auch zum Abonnement. Eine Zeit lang Teil größerer Zusammenhänge, die
wie ein Festland wirkten, kann man den Eindruck haben, das Projekt sei wie eine
Insel übrig geblieben. Doch diese Not ist mit Notwendigkeit geladen. Die
relative Isolierung erübrigt die Zeitschrift nicht, sondern macht sie auf neue
Weise desto notwendiger.