Wolfgang Fritz
Haug
Verrat oder Versagen?[1]
Fragen zum Verhalten der
Linksintellektuellen
in der postkommunistischen Situation[2]
Ich falle gleich
mit der Tür ins Haus und beginne mit einer Textprobe aus einem Trendbuch, das
viel Wind gemacht hat: »Um dieses Jahrhundert überhaupt zu verstehen, gilt es,
die vollkommen irrationale Macht zu erkennen, die diese Figuren – sei es
Hitler, Stalin oder Brecht – im persönlichen Umgang ausübten.« Hitler, Stalin
oder Brecht – Probe eines verkommenen Denkens? Der Satz ist ein Zitat aus John Fuegi, The
Life and Lies of Bertolt Brecht, einem »philologischen Verbrechen«,
wie Willi Winkler in der Zeit
vom 17. März 1995 geschrieben hat. Die deutsche Ausgabe steht bevor
(EVA); es hilft nichts, dass das Brecht
Yearbook ein über 105 Druckseiten langes
(unvollständiges) »Verzeichnis der Fehler, Lügen, Unterstellungen,
Schludrigkeiten, Missverständnisse, Übersetzungsfehler und unbelegten
Behauptungen« gebracht hat. Und bei der Tagung der Internationalen Brecht-Gesellschaft
in Augsburg waren die aus Hongkong, Kanada und den USA angereisten Germanisten
»fast ein wenig neidisch auf den Windmacher – entgegenzusetzen wussten oder
wollten sie ihm nichts«. Der skrupellose Windmacher und seine schafsgefügigen
Kollegen – wie sind sie einzuschätzen? Und was soll man von Botho Strauss
halten, wenn er den Reiz des »Völkischen«, oder Hans Magnus Enzensberger, wenn
er den des Krieges entdeckt?
Sind das Beispiele für einen neuen »Verrat der
Intellektuellen«? So heißt ein berühmtes Buch von 1927, Julien Bendas La trahison des clercs. Der Titel artikuliert eine Frage, die periodisch
aufbricht.
Benda ist liberaler Journalist und verfügt nicht über
»eine Lehre vom Staat, von der Religion und von der Funktion der
Intellektuellen im staatlichen Leben«, wie
Gramsci in den Gefängnisheften
bemerkt (H. 10, §47, Bd. 6,
1337). Das hindert nicht, dass Bendas »radikal-rationalistischer
Intellektualismus, seine strikte Absage an alles Irrationale, sein Beharren auf
einem Universellen, das niemals aufgeht in partikularen Erscheinungsformen,
heute belangvoller ist denn je«, wie Jean Améry 1978 im
Vorwort zur deutschen Ausgabe geschrieben hat. Améry muss die
ideologische Wende gespürt haben, die
sich damals in Reaktion auf den einbegriffenen Niedergang des Fordismus
vollzog. Was würde er erst zu den heute »maßgeblichen« Haltungen und
Denkmustern sagen? Der postmoderne Zeitgeist hat
seither alles daran gesetzt, seine
Kriterien zu zersetzen: »Absage an alles Irrationale,
Beharren auf einem Universellen,
das niemals aufgeht in partikularen Erscheinungsformen«.
Um den Einbruch kritischer Rationalität in den 1980er und
90er Jahren zu beschreiben, reicht das
Schlagwort vom Verrat der Intellektuellen nicht aus. Die Verrat-Metapher
überdeckt das von Gramsci gespürte Vakuum. Lässt sich Bendas Frage mit Gramscis
nicht-rationalistischem und nicht-normativem Intellektuellenbegriff
reartikulieren und auf die Gegenwart anwenden? Aber wie wäre dieser
Intellektuellenbegriff sinnvoll zu modifizieren? Die Frage wäre dann auf die
liberalen und Linksintellektuellen einzuengen. Müsste man statt von Verrat
nicht vielmehr von ihrer Krise sprechen, von ihrer Resignation und
Verunsicherung? Und könnten diese eine Folge dessen sein, dass sie schlecht
gerüstet waren nicht nur für die »Krise des Fordismus«, sondern vor allem für
den Geschichtsbruch von 1989/90 und seine deutsche Auswirkung in Gestalt der
»Wiedervereinigung«? Oder ist das Verhalten der Linksintellektuellen einfach
ein Ausdruck der Schwäche der gesellschaftlich-politischen Gruppierungen, der
demokratisch-sozialen Bewegungen und ihrem Umfeld, die ihr Wirkungsmilieu
gebildet hatten?
Und
doch bleibt dann noch immer ein Motiv, vom »Verrat der Intellektuellen« zu
sprechen: Vieles am Postmodernismus vom Beginn der 1980er Jahre wirkt aus der
Distanz wie die falsche Freiheit einer Denkdroge. Der Kommunismus war bereits
geistig tot, das fordistische Sozialstaatsprojekt der Sozialdemokratie in Krise.
Es gab noch einmal eine Phase, in der Intellektuelle und Volk, ja die Völker, in
ihren Hoffnungen und Einsichten konvergierten: dies war die kurze Zeit der
Perestrojka, deren entsetzliches Ende, das kein Ende findet, so viele
Hoffnungen zu Illusionen stempelte. Die Gedanken dieses Moments, in dem alles
wieder möglich erschien, sind durch das Scheitern nicht widerlegt. Dass sie
dennoch unglaubwürdig wirken, liegt an der »Ohnmacht der Vernunft«. Was in der
Sowjetunion ab 1989 die geistige Situation bestimmte, der völlige Zusammenbruch
des Glaubens an die Perestrojka, der Abfall der Intellektuellen von ihr, ist
kaum als Verrat zu beschreiben. Und doch scheint die postkommunistische
Situation sich dadurch auszuzeichnen, dass nach den verratenen Hoffnungen die
Hoffnung auf den Verrat das Zepter ergriffen hat.
Warum
aber sprangen bereits im Vorfeld von 1989 so viele Intellektuelle in Westeuropa
aus der politisch-ethischen Verantwortung? Sie demolierten den Antifaschismus
just, als Faschismus sich wieder rührte. Sie denunzierten die Aufklärung, auch
die über ihre eigene Dialektik aufgeklärte, ausgerechnet in dem Moment, als Gegenaufklärungen
wieder Zulauf erhielten. Kann man sagen, dass die Postmoderne, wo sie Vernunft,
Kritik, Verantwortung der Intellektuellen, Engagement und Aufklärung
diffamierte, wie eine Auftreffstruktur des »Verrats der Intellektuellen«, ihn
ideologisch ölend, gewirkt hat?
Um
zu ermessen, was uns fehlt, muss man nur lesen, wie Margherita von Brentano
1963 den Verrat angeprangert hat. Der Artikel ist überschrieben »Das verratene
Land und der Landesverrat« und findet sich in Argument 24.
Er wurde in einer Situation geschrieben, als der westdeutsche Staat die
Redaktion des »Spiegel« mit Polizeimaßnahmen überzog. Dass über militärische
Pläne der NATO informiert wurde, sollte als Landesverrat verfolgt werden.
Brentano schreibt: »Ein Land, in dem die FAZ oder die Welt Prototypen
der großen Zeitungen darstellen, bedarf keiner Einschränkung der Pressefreiheit.« Das in der Spiegel-Affäre
1962/63 angeblich »Verratene« wird von ihr
folgendermaßen entziffert: »Dass das kleine Westdeutschland im Falle des großen
Krieges zur Wüste werden wird.« Verraten worden ist es
der westdeutschen Bevölkerung selbst. »Landesverräter ist demzufolge, wer dem Lande und
dem Volke sagt, was in diesem Lande und Volke schon lange verraten worden ist.« Verraten worden ist die Verfassung. »Verraten ist der
Friede, der Lebenswille und die Zukunft eines Volkes, dessen beide Halbstaaten
von je einem der Sieger über Hitler gegen den je anderen, strategisch als
Degenspitze präpariert, psychologisch zum kläffenden Hündchen degradiert, eingesetzt
wurden – und dies willig mitgemacht haben.«
Ein Zustand, in dem die meisten Intellektuellen aufgehört haben,
solchen Verrat am Volk dem Volk zu verraten, erscheint, gemessen an solcher
Sprache, als »Verrat der Intellektuellen«. Aber darf von Intellektuellen als
solchen erwartet werden, dass sie den Verrat von oben nach unten verraten?
Verfügte zum Beispiel der NS-Staat, der solche Intellektuellen als
»Intellektbestien« verfolgte, über keine eignen Intellektuellen? Man muss nur
Thomas Laugstiens Philosophieverhältnisse
im deutschen Faschismus, Teresa Orozcos Buch über Gadamers
politische Hermeneutik der NS-Zeit oder Peter Jehles
Buch über die Romanisten jener Zeit lesen, um zu erkennen, wie blind ein
solcher normativer Intellektuellenbegriff wäre.
Wenn wir keinen normativen Begriff zugrundelegen,
müssen wir uns eingestehen, dass alle politischen Formationen ihre
Intellektuellen haben und auf allen Seiten Intellektuelle an und in diesen
Formationen arbeiten. Zur Zeit sind in einigen Medien
wie der FAZ Intellektuelle der neuen Rechten im Vordringen. Hat es bei ihrem
Rechtssein, bei ihrem mehr oder weniger unterschwelligen Rassismus, ihrer
Rechtfertigung von Herrschaft und Ungleichheit, ihrer Verhöhnung liberaler, demokratischer,
sozialistischer oder gar marxistischer Intellektueller einen Sinn, von Verrat
zu sprechen? In Abwandlung eines Satzes von Brecht (GA 22.1, 530) könnte man
vielleicht sagen: Nur wenn man unter Vernunft die Summe aller Fähigkeiten
versteht, welche die gesamte Menschheit zur Verteidigung ihrer Interessen aufzubringen
in der Lage ist, kann man sagen, dass ihr Verhalten, ihre Praxis gegen die
Vernunft ist. Wenn wir nach Verrat von Intellektuellen fragen, meinen wir
solche Intellektuelle, bei denen die zu beobachtenden Verhaltensweisen gegen
ihr besseres Wissen betätigt werden bzw. ihrer Grundposition widersprechen. Wir
meinen diejenigen, von denen der klare Widerspruch gegen Verdummung und Manipulation zu erwarten wäre. Und die
postkommunistische Situation wird immer dann zur Brutstätte bestimmter Verdummungen, wenn es herrschenden Interessen
nicht genügt, dass das schmutzige
Wasser weggeschüttet wird, weil in Wahrheit das Baby weg soll; wenn
die Hoffnung, die soziale Phantasie, die Kritik abgetrieben werden sollen. Der
liberale oder Linksintellektuelle im weitesten Sinn, der da nicht widerspricht und
also, nach altem
Rechtsgrundsatz, zuzustimmen scheint, verrät er nicht seine Überzeugungen? Oder falls er bloß aus
schierer Dummheit nicht widerspricht, ist diese von der anklagenden Frage
auszunehmen? Weil sie es zwar tut, aber nicht weiß? Aber wie ist es mit den
Wendehälsen? den Überläufern?
Momentan mag man ihnen »Verrat!« nachrufen, doch dann
gehen sie zur Gegenseite, bilden dort
das opportunistische und gerade deshalb am Ende besonders eifernde Element.
Könnte es sein, dass die Intellektuellen einer Klasse oder einer
sozialen Bewegung Gruppierung so gut sind wie diese Formationen selbst? Nein,
das wäre ein abwiegelnder Zirkelschluss, muss man doch kein besonderer Gramscianer sein, um zu begreifen, dass die Arbeit an der Selbstaufklärung einer Klasse
oder Bewegung die
Intellektuellen ausmacht.
Aber
die Frage lässt sich umformulieren: Ist der Zustand eines Milieus, in dem Wut
und Niedergeschlagenheit sich zu maulender Schafsgeduld verdichtet haben, mitwirkend
am Verhalten seiner Intellektuellen? Wäre vielleicht von unserem Milieu wieder
mehr von ihnen zu fordern? Brauchen wir am Ende frischen Wind und womöglich
neue Intellektuelle?
Teile
des linken Milieus haben sich auf ein Terrain lenken lassen, dem im Ringen mit
den partikularistischen Kräften besonders des Rassismus und Sexismus der Name
der Political correctness
zugewachsen ist. Darunter versteht man eine weitgehend
ins Moralisch-Symbolische verschobene Politik, welche die linken Kräfte ebenso
bindet wie spaltet und zum Mitwirken bringt an ihrer permanenten Vorführung. Wo
etwa der Anti-Rassismus seiner Dialektik blind unterliegt,[3]
wirkt er in dieser Richtung. Der symbolische Moralismus sortiert die
Intellektuellen, bestätigt und beschäftigt die Mittelmäßigen, stößt die
analytischen und schöpferischen Geister ab, womöglich nach rechts. Er ist
theoretisch interessant als Teilhegemonie mit im Ganzen dyshegemonialem Effekt:
Bestimmte politisch-ethische Positionen haben Wurzeln geschlagen, zum Beispiel
die Ablehnung von Rassismus oder Sexismus. Sie sind hegemonial geworden. Das
äußert sich darin, dass man nicht ohne weiteres dagegen verstoßen kann. Sie
gehören jetzt zu dem, »was man nicht tut«. Sie gehören also genau zu dem
Bestand, dessen bornierter Charakter auf die Borniertheit des Aufstands um
seiner selbst willen trifft, gegen den daher zum Beispiel ein Frank Castorf unbedingt, sozusagen berufshalber verstoßen muss.
In diesem Zustand lassen diese Errungenschaften sich von rechts auf die Formel
bringen, die sie konservativer Hegemonie subsumiert.
»Political correctness« ist immer
zweideutig. Sie kann ein Zeichen sein, dass etwas gelernt worden ist, dass
jedoch zu wenig gelernt worden ist. Die Rechte nutzt diese Zweideutigkeit:
Bestimmte Planungsmethoden waren falsch, also sind Planungsmethoden schlechthin
unbestimmt falsch; eine bestimmte Vernunft griff zu kurz oder zu weit, also
greift alle Vernunft zu kurz oder zu weit; etwas Schlechtes gab sich einen
guten Namen, also ist der gute Name schlecht. In gewisser Weise stellt die
Unredlichkeit und Borniertheit dieses Verfahrens einen »Verrat der Intellektuellen«
auf rechts dar. Es ist ja wahr: Ein bisschen Kritik, und Vernunft wird Unsinn,
Wohltat Plage. Aber wird, wer nicht seine eigne Vernunft wegwirft, deshalb die
Kritik abschreiben? Oder werden wir das Ungenügen der Kritik kritisieren, weil
wir erkennen, dass wir mehr oder genauere Kritik brauchen? Dann hätte sich das
Thema einmal mehr gewandelt: vom Verrat zur Lernunfähigkeit unserer Intellektuellen.
[1] Zuerst
erschienen in Das Argument 211, 37. Jg., 1995, H. 5, 653-56.
[2] Vgl.
dazu W.F. Haug, Determinanten der
postkommunistischen Situation, Hamburg 1993.
[3] Vgl.
dazu W.F.Haug, »Zur Dialektik des Anti-Rassismus«,
in: Das Argument 191, 34. Jg., 1992, H.
1, 27-52; in überarbeiteter Form wieder in: Politisch
richtig oder Richtig politisch. Linke Politik im transnationalen High-Tech-Kapitalismus, Hamburg 1998.