Zweites Buch
Einleitung
>Donnez-moi l'ordinateur, et je vous donnerai la
mondialisation.<
Ignacio Ramonet, 2000
Das Erste Buch
atmet den Geist der Zeit nach 1968. Das war die durch eine weltweite Studenten-,
Jugend- und Intellektuellenbewegung aufgewühlte Welt der Systemkonkurrenz und
ihres Kalten Krieges, zugleich des von diesem überlagerten heißen Krieges in
Vietnam und der Niederwalzung des tschechoslowakischen Versuchs, Staatssozialismus und Demokratie zu versöhnen. Trotz aller Rückschläge
schien die Studentenbewegung die Tür zu vordem undenkbaren
Veränderungsmöglichkeiten aufgestoßen zu haben. Auch wenn das Realitätsprinzip
die Phantasie bald wieder von der imaginären Macht verdrängte, hatte sich das
Verhältnis des Denkens zur gesellschaftlichen Wirklichkeit nachhaltig
verändert. In dieser Situation fand das Erste Buch von 1971 eine atemberaubende
Aufnahme. Seine Beispiele entstammen unverkennbar den >goldenen Jahren<
des Fordismus im westlichen Nachkriegsdeutschland. Es war die Zeit, als die
Rolling Stones als eine der ersten Musikgruppen sich nach der Logik des
Markenartikels inserierten und sich Lippen und herausgestreckte Zunge von Mick
Jagger als Markenzeichen zulegten. Wenn der Gewohnheit die Dinge unsichtbar
werden, so öffnet der Moment des Auftauchens die Augen. An der staunenden
Neugier, mit der das Material analysiert wird, lässt sich der Entwicklungsschub
ablesen, den die Warenwelt damals durchmachte, auch wenn dem Rückblick noch
vieles wie in Kinderschuhen vorkommt. Wo wie in Deutschland zwei Weltkriege
diese Entwicklung aufgehalten hatten, beeindruckte der nachholende Übergang zum
>american way of life< des fordistischen Massenkonsums die Zeitgenossen desto mehr.
Eine Generation
später haben die Produktions- und die Lebensweise sich ebenso einschneidend
verändert wie die Weltlage. Aus dem Untergang des europäischen Staatssozialismus, der Beglückung auf Unterdrückung
gereimt hatte, stiegen bluttriefend die drei Ungeheuer des Nationalismus, des Rassismus
und des religiösen Fundamentalismus herauf. Ihrer aller Boden, der Weltmarkt mit
seiner zunehmend ungebremst in die Gesellschaften hineinwirkenden universellen Konkurrenz
hatte im Zeichen der Globalisierung das Soziale zur Marktwelt gemacht, zur
Szenerie von Privatisierung, Prekarisierung, Sozial-
und Kulturabbau. Doch hätte sich diese Politik der Privation
des Gesellschaftlichen nicht halten lassen, wäre sie nicht einhergegangen mit
der von ihr wiederum vorangetriebenen unablässigen Entwicklung der auf dem
Computer basierenden neuen Technologien, die der Begriff der Hochtechnologie
zusammenfasst. Diese Produktivkraftentwicklung revolutionierte nicht nur die
Welt der Arbeit und der Arbeitsteilung, sondern ergriff auch die Lebenswelt.
Sie zerstörte Sicherheiten und Lebenspläne, veraltete gewohnte
Affektmodellierungen nicht minder als soziale Kompetenzen. Doch für jedes
zerstörte Element schuf sie neue Handlungsräume und individuelle
Entfaltungsmöglichkeiten. War das Erste Buch selbstverständlich noch auf der mechanischen
Schreibmaschine geschrieben, so das Zweite genau so selbstverständlich mit dem
Computer, unterbrochen durch Internetrecherchen. Mit noch größerer
Selbstverständlichkeit werden vordem undenkbare Formen der Informationsbeschaffung,
Meinungsbildung und auch praktischen Koordination von unten übers Internet
ergriffen. Es ist wahr, dass für die Welt der hochtechnologischen Produktions-
und Lebensweise der Satz von Marx gilt, und zwar gemäß den gewachsenen Produktivkräften
in potenziertem Ausmaß, wonach >in unsern Tagen
[…] jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen< scheint.[1]
Dennoch stellen diese Kräfte und Formen bei aller Zweideutigkeit einen zivilisatorischen Fortschritt dar, hinter
den zurückzuwollen keinen vernünftigen Sinn hätte. Es war falsch und
undialektisch, im Ersten Buch die Widersprüchlichkeit
auf die zerstörerische Seite zu reduzieren und zu sagen: >Vom Standpunkt aller ideellen Werte, mit denen die
Bourgeoisie historisch aufgetreten ist, also durchaus immanent kritisiert, sind
von der spätkapitalistischen Gesellschaft kaum mehr andere Fortschritte zu
erwarten als solche auf dem Wege zur Korruption der Menschheit.<[2]
Das Kapital zielte
im halben Jahrtausend seiner historischen Laufbahn schon immer auf den
Weltmarkt. Die Geschichte der Produktiv- und Destruktivkräfte ließe sich als eine Geschichte seiner Globalisierungsschübe schreiben. Doch die auf Basis des Computers
entwickelte Integration der Informations- und Kommunikationstechnologien hat
dem Kapital das Instrument der quasi in Echtzeit erfolgenden Koordination
seiner nach marktstrategischen Gesichtspunkten auf dem Globus verteilten
Stützpunkte in die Hand gegeben. Die transnationalen Konzerne sind dadurch zu
den dominanten Akteuren des Weltkapitalismus geworden. Ihnen sind die lokal oder
national begrenzten Kapitalformen unterlegen. Die Regulationsmacht der nationalen
Regierungen aber, die das neoliberale Projekt der kapitalistischen Globalisierung zum Durchbruch gebracht haben, prallt am transnationalen
Operationsfeld jener Akteure ab. Innergesellschaftlich hatte bereits das
Aufkommen der Automation die Welt der Arbeit umgewälzt. ^Hochtechnologische Arbeitslosigkeit^^ folgte aus dieser Entwicklung. Die standardisierte
Massennormalität des Fordismus löste sich
auf in einem Nebeneinander unterschiedlicher Identitäten und Lebensmuster. Die
neue Zentrierung gehorchte dem Prinzip einer ^multikulturellen^^
Leistungselite. Sie differenzierte alle Lebensformen in Globalisierungsgewinner
und -verlierer. Verstärkt wurde diese Entwicklung durch die Umwälzung der internationalen Arbeitsteilung, die in der Verlagerung von Produktionsbetrieben
in ^Billiglohnländer^^ und konzentriert im Aufstieg Chinas zur ^Fabrik der
Welt^^ ihren Ausdruck gefunden hat. Kurz, im Vergleich zur Epoche um 1970, der
Entstehungszeit des Ersten Buches, haben sich Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, Lebensweisen und Individualitätsformen
durchgreifend verändert.
Die Produktivkraftentwicklung hat auch die Technologien des Imaginären
revolutioniert und die im Ersten Buch analysierte >Technokratie der Sinnlichkeit<
auf eine neue Grundlage gestellt. Der Transnationalisierung des Kapitals
folgten die Gestaltzeichen der Warenästhetik, wie sie auch die gewandelten Subjektformen
und die entsprechenden Teilmärkte oder Marktsegmente in die Veränderungen
zugleich verfolgte und hineintrieb. Gestützt auf die gesteigerte Macht, die ihr
die Digitalisierung des Scheins in die Hand gab, hat auch die Warenästhetik
einen Sprung gemacht. Der Grad, in dem sie die Kultur durchdrungen und geradezu
überwältigt hat, ist als >Hyperkommerzialisierung< (McChessney)
beschrieben worden. Wo der Kapitalismus hoch
entwickelt ist, stumpften die Sinne und der kritische Sinn dafür sich im selben
Maße ab, in dem die durch die digitalen Bildtechniken perfektionierten und
durch die neuen Medien und das Internet allgegenwärtig gewordenen ästhetischen Gebrauchswertversprechen der Waren mit ihren >zu Verheißungszeilen geronnenen
verbalen Lebensködern<[3]
zur zweiten Natur wurden. In ihrer Totalität aus werbendem Schein spiegelt sich
alle Kultur bis zum Überdruss.
In den ehemals staatssozialistischen
Gesellschaften dagegen, zu deren Untergang die Fata Morgana der westlichen Warenästhetik
beigetragen hat, verwandelte im historischen Moment des Postkommunismus >die
Konsumideologie sich in die Großideologie<, und >die Leute möchten jetzt
konsumieren<.[4]
In Ländern wiederum, wo die Ästhetik der Waren über die satellitengestützten
Medien globaler Reichweite ankommt, ohne dass die Waren selbst erschwinglich
oder überhaupt zugänglich wären, wirkt sie wie eine Verheißung des irdischen
Paradieses und trägt dazu bei, die massenhafte Auswanderung vom vor- oder
halbkapitalistischen Land in den kapitalistischen Weltmarkt und damit die Globalisierung des Kapitalismus voranzutreiben. Mario Vargas Llosa kolportiert in einem
gegen den Sozialismus eifernden Artikel die einem der im Ausland eingesetzten
kubanischen Ärzte zugeschriebene Äußerung: >Als ich in Venezuela ankam und
zum ersten Mal eine Flasche Coca-Cola sah, kamen mir die Tränen.<[5] Die Warenästhetik, die
als Propaganda einer Lebensweise wirkt, welche den Warenkonsum zum Sinnzentrum
erhöht, bestimmt weltweit auf der Spur der Reichtumsgefälle das Verhältnis von
Stadt und Land, sowohl im nationalen Rahmen als auch international. Davon weiß
das Erste Buch noch nichts, auch nicht von den anderen Zügen der durch die
Verbindung von Kapitalismus und Computer in Veränderungen noch kaum absehbarer
Reichweite gerissenen Welt.
Trotz aller seither
auf sämtlichen Ebenen des Sozialen eingetretenen Umbrüche sowie der
fortgeschrittenen Sprengung kultureller Schranken durch die parasitäre Macht
der Warenästhetik hat sich im Kern an deren Wesen und Wirkungsgesetzen sowenig
etwas Grundlegendes geändert wie am allgemeinen Wesen und den Bewegungsgesetzen
des Kapitals. Im Gegenteil passt der Spruch: Je mehr es sich ändert, desto mehr
bleibt es dasselbe. Gibt es im Allgemeinen nichts Neues, so im Besonderen desto
mehr. Darum und um die Konkretisierung der Begriffe im Lichte der neuen
Erfahrungen geht es in diesem Zweiten Buch. Man erwarte von ihm keine
erschöpfende Beschreibung der Erscheinungen. Auch kann es, da die Theorie im
Allgemeinen eher sachhaltiger geworden ist als zur Zeit des Ersten Buches,
keine neue Grundlegung geben. Wohl aber geht es darum, dem Formwandel auf der
Spur zu bleiben und begriffliche Schneisen zu schlagen durch die blendend reale
Erscheinungswelt des globalisierten High-Tech-Kapitalismus.[6]
[1] Karl Marx, Rede auf der Jahresfeier des >People's
Paper< am 14. April 1856 in London, MEW 12, S. 3. Der Fortgang der Rede
klingt so aktuell wie je: >Wir sehen, dass die Maschinerie, die mit der
wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und
fruchtbarer zu machen, sie verkümmern lässt und bis zur Erschöpfung auszehrt.
Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen
Zauberbann zu Quellen der Not. Die Siege der Wissenschaft scheinen erkauft
durch Verlust an Charakter. […] All unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt
scheinen darauf hinauszulaufen, dass sie materielle Kräfte mit geistigem Leben
ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen.
Dieser Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft
auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der
andern Seite, dieser Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den
gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche ist eine handgreifliche, überwältigende
und unbestreitbare Tatsache.< (S. 3f)
[2] S. 126 der
Erstausgabe.
[3] Bernd Guggenberger, >Schönheit ist alles, alles andere zählt
nicht<, in: FAZ, 9.12.1989.
[4] Boris Groys, >^El consumo
es hoy la gran ideología^^<, Interview mit José Andrés Rojo in El País,
26.7.2008, Babelia, S. 12. In Das kommunistische Postskriptum (Frankfurt/M
2006) meint Groys: >Im sowjetischen Kommunismus wurde jede Ware zur
ideologischen Aussage, wie im Kapitalismus jede Aussage zur Ware wird.< (S. 10) Das aber heiße, dass die Sprache hier
>ursprünglich stumm< sei (ebd.). Damit würden >unter den Bedingungen
des Kapitalismus jede Kritik und jeder Protest grundsätzlich sinnlos< (S.
8).
[5] Mario Vargas Llosa,
>Caracas al vuelo<, El País, 24.8.2008, S. 33.
[6] Vgl. W.F.Haug, High-Tech-Kapitalismus, 2.A., Hamburg 2005.