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Elfter Versuch
Philosophieren mit Gramsci und Brecht [39]

"Denke nicht als Denker."
Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, 51

Der Sinn des Philosophierens

Die erste Schwierigkeit liegt im Ausdruck Philosophieren: Was werden wir unter Philosophieren verstehen? Die Frage scheint unsinnig, die Antwort selbstredend: Unter Philosophieren versteht man Philosophie treiben. Soll das heißen, dass wir in der Weise der Philosophen denken wollen? Aber welcher? Und sind wir denn Philosophen, dass wir in dieser Weise denken wollen? Wenden wir uns an die Institution Philosophie, wo man Philosophie treibt, indem man sich mit der Philosophie der Philosophen beschäftigt. Heißt das, dass wir mit Brecht und Gramsci das tun wollen, was in der Institution Philosophie getan wird?
Vielleicht ist es besser, wir lassen den Titelbegriff des Philosophierens fallen und formen das Thema um in: Denken mit Gramsci und Brecht. Verstehen wir unser Vorhaben so besser? Oder ist damit das Besondere des philosophischen Denkens verloren gegangen? Denken tun wir alle im wachen Zustand fast jederzeit, und selbst im Schlaf kommen uns Traumgedanken, wie Sigmund Freud sie genannt hat. Doch dass einem Gedanken kommen, dass einem dies oder das durch den Kopf geht, kann schwerlich der Sinn unserer Frage sein. Auch nicht das Berechnen einer Wirkung, die Suche nach geeigneten Mitteln für einen bestimmten Zweck, das instrumentelle und instrumentalisierende Denken. Oder meinen wir das wissenschaftliche Denken, das die Grundlagen des instrumentellen und instrumentalisierenden Denkens festellt? Aber hier warnt uns Heidegger in Was heißt denken? mit dem schneidenden Satz, "dass die Wissenschaft nicht denkt" (1954, 133). Er fügt allerdings hinzu: "nämlich nach der Weise der Denker". Nicht, dass er die Wissenschaft schlechterdings abwerten möchte. Er nennt es ihren "Vorzug", nicht zu denken, weil sie sich nur so als Forschung auf ein Gegenstandsgebiet einlassen könne. Das wirft ein Licht auf den Wissenschaftsbegriff, dem er folgt. Reflexion auf Ziele und Wege ist aus so verstandener Wissenschaft ausgeschlossen. Was aber versteht er unter Denken nach der Weise der Denker? Er bestimmt es durch das, was er ihm zu denken gibt. Von diesem, was wir denken sollen, sagt er, dass es das Ungedachte aller bisherigen Philosophie ist: "die Wesensherkunft des Seins des Seienden". Zu sagen, dass Nichts davon vorstellbar sei, ist doppeldeutig: Vorstellendes Denken zurückweisend, weist Heidegger uns zurück auf eine Vorstellung des Nichts, nämlich auf eine Wesensherkunft, die sich uns, wie er sagt, entzieht. Dieses abwesende, weil sich entziehende Wesen erlaube einzig, "dass wir darauf hinweisen und hierbei uns selber anweisen". "Dieses Weisen ist unser Wesen." (134f)
Unwillkürlich in die ehrfürchtige Haltung von Leuten gebracht, die einen höheren Sinn unterstellen, der über ihren Horizont geht und dem sie sich aus einer tief eingewurzelten Bereitschaft heraus gedankenlos zu unterstellen beginnen, holen wir uns zurück in die Frage: Wo sind wir da bloß hingeraten? Dieses Denken nach Weise der Denker spricht offenbar von einem Berg der Anmaßung herab als An-Weisung. Wenn Nietzsche, die Vielen verachtend, von sich sagte, er philosophiere sechstausend Fuß über der Menschheit (nämlich in einem Schweizer Hotel in 1800 Meter Höhe), so philosophiert Heidegger wie ein Orakel, uns Weisungen von den Gipfeln der Denker und Dichter zukommen lassend, denen wir uns unterstellen sollen, als wiesen sie uns unser wahres Wesen. "Ein Zeichen sind wir, deutungslos ...", zitiert er Hölderlin, um dann von seinem Denken nach der Weise der Denker zu behaupten, es sei eben diejenige Macht, durch die "dem Zeichen, als welches die Sterblichen sind, eine Deutung gebracht würde".
Sollte uns unser Wesen am Ende von Deutern kommen, die uns verachten? Mit Gramsci und Brecht danken wir für dieses Angebot und lassen es zurückgehen, um den Spieß umzudrehen und von gewöhnlichen tätigen Menschen her das Wesen der Denker zu bestimmen.

Der gemeinsame Ausgangspunkt bei Gramsci und Brecht

Unsere Eingangsfrage nach dem Sinn des Philosophierens stößt nun bei Gramsci und Brecht auf einen gemeinsamen, vom Philosophieren der Institution wie dem Denken nach der Weise der Denker gleichermaßen entfernten Zugang zur Auffassung von Philosophie. Ohne voneinander zu wissen, bilden sie etwa gleichzeitig einen Philosophiebegriff von unten.
Brechts Empfehlung könnte von Wittgenstein inspiriert sein: "Die Philosophie sollte sich mehr mit den Reden der Leute als mit den Reden der Philosophen beschäftigen." (21, 402) Er fragt danach, was "das Volk" meint, wenn es "einem eine philosophische Haltung zuschreibt" (22.1, 512; XV, 253). Das führt zu einer Neudefinition des Philosophen: "denn in unserer Zeit und seit lange schon bedeutet Philosophieren etwas ganz Bestimmtes, was ich gar nicht im Auge habe." Nicht die Metaphysik: "was alles man sich denken kann und wie sich die Begriffe miteinander vertragen"; anzusetzen ist vielmehr bei der "vornehmlich im niederen Volke umlaufenden Art des Philosophierens", bei dem, "was die Leute meinen", wenn sie sagen, jemand habe eine "philosophische Haltung" gezeigt oder wie ein Philosoph gehandelt. Sie verstehen darunter "fast immer eine Fähigkeit des Aushaltens von was." Hier muss man "eine Unterscheidung machen": Wenn die Leute das Einsteckenkönnen von Schlägen für "philosophisch" erklären, so ist das ums Austeilenkönnen von Schlägen zu ergänzen. "Die Philosophie lehrt richtiges Verhalten." (21, 562) Aber nicht im Sinne der Moralphilosophie, sondern im Sinne der Lebenskunst[40] , der "größten aller Künste" (23, 290; XVI, 702). Was die Frage des richtigen Verhaltens und eines zu solchem Verhalten befähigenden Wirklichkeitsbildes angeht, schätzt Brecht die marxistischen Klassiker als ungenügend ein: "Sie gaben ein ungenaues und kleines Bild, und sie lehrten vage und unmögliche Haltungen." (22.1, 483) Haltung und Handlungsfähigkeit müssen sich in Widersprüchen bewähren. Geht Brechts neues Philosophieren vom alltäglichen Sprachgebrauch der Leute aus, so bleibt er dabei nicht stehen, sondern versucht, diesen Anfangsimpuls mitzunehmen und nie die Berührung mit diesem Ausgangspunkt zu verlieren oder für den gesunden Menschenverstand, allen Zumutungen zum Trotz, unverständlich zu werden. So der Zugang Brechts. Und Gramsci?
Gramsci verblüfft den gesunden Menschenverstand mit der von Benedetto Croce inspirierten Behauptung, "dass alle Menschen 'Philosophen sind" (H. 11, 12, 1375). Die Gründe, die er dafür gibt, sind mehrschichtig. Da ist zunächst die linguistische, auf Diskursanalyse vordeutende Einsicht, dass wir Elemente "spontaner Philosophie" in fertiger Form mit der "Sprache" je schon übernommen haben und immer wieder übernehmen. Gramsci nennt das die "spontane Philosophie", die "aller Welt" eigen ist (ebd.). "Was soll's?", könnte der Alltagsverstand einwenden. Und genau diese Frage, was Philosophieren ursprünglich soll, erhält bei Gramsci einen Sinn zurück, den man "existenziell" nennen möchte, hätte die Existenzphilosophie eine Ahnung davon. Die in Sprache sedimentierten Philosopheme sind nicht nur anorganisch zusammengestückt -- Gramsci sagt: "bizarr" (H. 11, §12) --, sondern sie organisieren uns gleichsam hinterrücks. Solche Meinungen sind nicht mein, sie gehören mir nicht, ich gehöre ihnen. Da sie disparat sind, verharre ich in disparater Hörigkeit, an etwas "teilzuhaben", was mir mechanisch von der äußeren Umgebung "auferlegt" ist. Die Zugehörigkeit, in die ich zunächst bewusstlos geworfen bin, widerfährt mir "von einer der vielen gesellschaftlichen Gruppen, in die jeder automatisch von seinem Eintritt in die bewusste Welt an einbezogen ist" (ebd.).
Brecht begreift das Individuum mit Anklängen an Nietzsche und vermutlich Gedanken Kurt Lewins aufnehmend als dezentriert, als Dividuum. "Das Individuum erschien uns immer mehr als ein widerspruchsvoller Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse. Es mag nach außen hin als Einheit auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchtobte Vielheit, in der die verschiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen, so dass die jeweilige Handlung nur das Kompromiss darstellt." (22.2, 691) Die "Teilbarkeit", die Brecht am Einzelnen beobachtet, begreift er genau wie Gramsci "als Zugehörigkeit zu mehreren Kollektiven" (21, 359; XX, 60). Das Personal der traditionellen Philosophie: Subjekt, Ich, Person, gar Geist, wird aus einer Sammlung metaphysisch-fester Größen zu oszillierenden Prozesseffekten. "'Ich' bin keine Person. Ich entstehe jeden Moment, bleibe keinen. Ich entstehe in der Form einer Antwort. In mir ist permanent, was auf solches antwortet, was permanent bleibt." "Ich mache Mich./ Ich könnte die Selbstkontrolle der Materie sein./ Seit der Gott 'weggedacht' ist, der dem Menschen glich, gleicht der Mensch auch nicht mehr dem Menschen." (21, 404)
Gramsci fasst die spontane Daseinsweise disparater Zugehörigkeiten als Zusammenhangslosigkeit oder Inkohärenz. Sobald Individuen es vorziehen, "die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten" (H. 11, §12), bilden sie an ihrer Kohärenz[41] . Dieser Begriff ist geeignet, den rationalen Gehalt des Begriffs Identität aus dem versteinerten Blick zurück nach vorn und, mit Brecht zu reden, ins Praktikable zu wenden. Gramsci geht davon aus, dass in uns allen der Impuls lebt,

"die eigene Tätigkeitssphäre zu wählen, an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen, Führer seiner selbst zu sein und sich nicht einfach passiv und hinterrücks der eigenen Persönlichkeit von außen den Stempel aufdrücken zu lassen" (H. 11, §12, Bd. 6, 1375).

"Wenn die Weltauffassung nicht kritisch und kohärent, sondern zufällig und zusammenhangslos ist, gehört man gleichzeitig zu einer Vielzahl von Masse-Menschen, die eigene Persönlichkeit ist auf bizarre Weise zusammengesetzt: es finden sich in ihr Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zueigen sein wird. Die eigene Weltauffassung kritisieren heißt mithin, sie einheitlich und kohärent zu machen und bis zu dem Punkt anzuheben, zu dem das fortgeschrittenste Denken der Welt gelangt ist. Es bedeutet folglich auch, die gesamte bisherige Philosophie zu kritisieren, insofern sie verfestigte Schichtungen in der Popularphilosophie hinterlassen hat. Der Anfang der kritischen Ausarbeitung ist das Bewusstsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein 'Erkenne dich selbst' als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses, der in einem selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, übernommen ohne Inventarvorbehalt[42] . Ein solches Inventar gilt es zu Anfang zu erstellen." (AaO., 1376)

Was gegen solche Sätze, die den Anfang von Gramscis Notizen zu einer Einleitung und Einführung ins Studium der Philosophie und der Kulturgeschichte bilden, am meisten zu sprechen scheint, ist die Resignation derer, denen die Verhältnisse keine Zukunft zu ermöglichen scheinen. Daher sprechen solche Sätze der Möglichkeit nach gegen solche Verhältnisse, und die Verständigung über das, was wir je von uns aus wollten, ist die Probe aufs Exempel einer solchen Möglichkeitserfahrung. Das Aufmachen einer existenziellen Zukunftswerkstatt bringt die Einzelnen dazu, aus sich herauszugehen. Sie erfinden Gesellschaft neu und treten dadurch in die Geschichte ein. -- Das sind Tendenzaussagen über eine mögliche Aufgabe oder aufgegebene Möglichkeit. Sie ist aufgegeben im Doppelsinn: unsere menschliche Wesenswirklichkeit gibt sie uns auf, während die historisch gewordenen Verhältnisse uns mechanisch dazu bringen, sie aufzugeben. Der Beharrungseffekt hält uns fremd in falscher Vertraulichkeit. Das gehört zu den ältesten Erfahrungen, an denen sich Philosophieren entzündet hat. Von Parmenides und dem Höhlengleichnis, das der platonische Sokrates erzählt, bis zu Marx' Übersetzung der von den Philosophen geschilderten Entfremdung in die kapitalistische Gestalt des In-der-Welt-Seins als des Seins "innerhalb der Welt" (MEW 2, 113): In ihr finden wir uns ebenso spontan wie bewusstlos-selbstverständlich in einer "Religion des Alltagslebens", in deren "entfremdeten und irrationellen", durch die Herrschaft der Wertformen und des Verwertungsprozesses bestimmten Formen wir uns "völlig zu Hause fühlen", weil sie es sind, worin wir uns bewegen und mit denen wir es "tagtäglich zu tun haben" (MEW 25, 838). Gramsci ergänzt: unser Bewusstsein ist nicht reine Gegenwart, also auch nicht einfache kapitalistische Gegenwart, sondern von einer Ungleichzeitigkeit bestimmt. Ohne dass sie voneinander wissen, sucht auch Ernst Bloch in eben den 1930er Jahren, in denen diese Gedanken aufgeschrieben wurden, solche Ungleichzeitigkeit in ähnlicher Absicht zu dialektisieren (GA 4, 104ff).

Kohärenz und Hegemonie als philosophische Tatsache

Gramscis Kohärenz ist nicht als homogene -- Althusser würde vielleicht sagen: expressive[43] -- Totalität zu verstehen, sondern als ein Sich-Zusammen-Nehmen zur Handlungsfähigkeit. Sie leugnet nicht Widersprüchlichkeit oder Zerrissenheit, also das, was vom Standpunkt aristotelischer Logik Inkonsistenz wäre, auch nicht Dezentriertheit, sondern sie setzt diese antiaristotelischen Züge geradezu voraus. Neuerdings ist ein vergleichbarer Begriff von "Kohärenz" im Rahmen einer medizinischen Theorie formuliert worden. Der Gedanke findet sich bereits bei dem Arzt-Sohn Aristoteles in Gestalt einer zunächst tautologisch wirkenden Aussage, die dem Wesen der Gesundheit zuschreibt, dass sie anders und besser gesund mache, als die ärztliche Medizin.[44] Für die Theorie der Salutogenese[45] ist Gesundheit jedenfalls kein Zustand, sondern ein Prozess, ja geradezu eine Produktion. Der "sense of coherence" ist nach dieser Auffassung entscheidend für diese Seite der Lebensfähigkeit. Dazu gehört, die Welt zumindest in relevanten Hinsichten als verstehbar, sinnvoll und beeinflussbar erfahren oder wenigstens deuten zu können. Der Kohärenzsinn wird also wohl immer auch imaginäre Anteile enthalten, sich vielleicht sogar als Selbsttäuschungsbedarf geltend machen. Habermas benennt das Problem, dessen Fassung durch Gramsci ihm anscheinend unbekannt ist, folgendermaßen: Der Alltagsverstand bzw. das Alltagsbewusstsein ist "hoffnungslos zersplittert". "An die Stelle des falschen tritt heute das fragmentierte Bewusstsein, das der Aufklärung über den Mechanismus der Verdinglichung vorbeugt", was eine der Bedingungen ist für die kapitalistische "Kolonialisierung der Lebenswelt" (1981, II, 522). Kurz, Habermas formuliert das Problem eigentümlich unlösbar, obwohl er zugleich als Theoretiker eigentümlich glatte Lösungen kommunikativer Ethik präsentiert. Es ist, als wäre ein einheitliches Bewusstsein, denn dies und nicht Handlungsfähigkeit scheint er zu fassen, arbeitsteilige Angelegenheit des Theorie-Intellektuellen, nicht der Leute selbst. Anders Gramsci. Jede und Jeder hat Zugang zum Philosophieren, weil niemand nicht an seiner bzw. ihrer Kohärenz wirkt. Als arbeitsteilige Spezialität des Theorie-Intellektuellen würde er allenfalls eine Aufgabenstellung akzeptieren, wie Ulrich Sautter (1995, 699, Fn. 47) sie bei Brecht beobachtet hat: "Anstöße für eine Änderung aus den betrachteten Subjekten selbst heraus zu geben [...], die Erkenntnis des Betrachtenden für den Betrachteten selbst verwertbar zu machen: ein Vorgang, der die Autonomie des Objektes unangetastet lässt." Beim Objekt handelt es sich ja hier um ein Subjekt. Aber ist dieses als autonom zu unterstellen? Und gibt es unter solchen antiideologisch gemeinten Bedingungen noch eine Schranke gegen Wahngebilde oder Privatphilosophien?
Natürlich kann es keine von vornherein wirksame Garantie dagegen geben. Doch sieht Gramsci, dass wir uns nicht anders als kommunikativ kohärent machen können. Der Kolonisierung der Lebenswelt entginge nur eine selbstbestimmte Lebensweise, und diese verlangt eine Kultur, die wir mit anderen teilen. Niemand, der nicht wenigstens Ansätze dazu hervorbringt. Gramsci formuliert die Bedingungen, über enge private Schranken in dieser Richtung hinauszugehen: "Eine neue Kultur zu schaffen bedeutet nicht nur, individuell 'originelle' Entdeckungen zu machen, es bedeutet auch und besonders, bereits entdeckte Wahrheiten kritisch zu verbreiten, sie sozusagen zu 'vergesellschaften' und sie dadurch Basis vitaler Handlungen, Element der Koordination und der intellektuellen und moralischen Ordnung werden zu lassen. Dass eine Masse von Menschen dahin gebracht wird, die reale Gegenwart kohärent und auf einheitliche Weise zu denken, ist eine 'philosophische' Tatsache, die viel wichtiger und 'origineller' ist, als wenn ein philosophisches 'Genie' eine neue Wahrheit entdeckt, die Erbhof kleiner Intellektuellengruppen bleibt." Verständigung über Gestaltungsfragen unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, darüber, wie wir leben wollen, ist für Gramsci die grundlegende philosophische Tatsache.
Einen Habermas würde Gramsci weder verachten noch unbeachtet lassen; er würde ihn gründlich studieren und kritisieren, wie er es mit dem liberalen "Laienpapst" (H. 10.II, 41.IV) seiner Zeit, Benedetto Croce, getan hat. Um solche großen akademisch-literarischen Gestalten denken zu können, erweitert er zunächst den Intellektuellenbegriff gleichsam nach unten, indem er ihn entakademisiert und entliterarisiert. Intellektuelle Funktionen sind, könnten wir kurz sagen, alles Kohärenzfunktionen -- Funktionen der Organisation und Gestaltung, der Kommunikation und Koordination. Kein Individuum, das sie nicht in irgendeiner Form ausüben würde. Aber erst diejenigen, die sie in einer und für eine Gruppe der Gesellschaft ausüben, werden dadurch zu organischen Intellektuellen derselben. Jede Gruppe bildet in dem Maße Intellektuelle aus, indem sie sich wenigstens als Korporation nach bestimmten Interessen artikuliert. Will sie gesellschaftlichen Einfluss erhalten, muss sie den korporatistischen Gruppenhorizont überschreiten und ihre speziellen Belange mit denen anderer Gruppen vernetzen. Je allgemeiner die Lösungen sind, die sie derart zu vertreten vermag, desto weiter reicht ihre Ausstrahlung. Ausstrahlung in diesem Sinne zielt auf "Hegemonie", d.h. politisch-ethisch führenden Einfluss. Hegemonie aber ist nach Gramscis politischer Philosophie, die in dieser Hinsicht kaum verstanden worden ist, eine philosophische Tatsache. Sie ist es, weil sie sich gar nicht bilden kann, ohne eine bestimmte Weltauffassung mit einer politischen Ethik zu verbinden. Dies ist die Bindekraft für das, was Gramsci einen "geschichtlichen Block" (H. 10.I, 1249) nennt, eine politisch-gesellschaftliche Formation, die geschichtliche Handlungsfähigkeit erlangt, indem sie für eine Periode Regierungsfähigkeit oder sogar einen ganzen Staat zu tragen vermag. Hegemonie in diesem Sinn kann als Wirklichkeitsbedingung einer Philosophie verstanden werden, auf die dann, wenn sie diese Bedingung erfüllt, die Hegelsche Formel passt, dass sie "Philosophie ihrer Zeit" oder "der Geist der Zeit, als sich denkender Geist" (W 18, 65, 73) sei.
Nachdem er vom individuellen Kohärenzstreben ausgegangen und zum Politischen aufgestiegen ist, überträgt Gramsci den so aufgebauten Begriff des geschichtlichen Blocks zurück aufs Individuum. In unserem Selbstverhältnis entspricht etwas dem, was wir im Gesellschaftsverhältnis Politik nennen. "Der Mensch ist zu begreifen als ein geschichtlicher Block von rein individuellen, subjektiven Elementen und von massenhaften, objektiven oder materiellen Elementen, zu denen das Individuum eine tätige Beziehung unterhält. Die Außenwelt, die allgemeinen Verhältnisse zu verändern, heißt sich selbst zu potenzieren, sich selbst zu entwickeln." (1341f) Der Gedanke geht über in eine Umformung der sechsten Feuerbach-These: "Dass die ethische 'Verbesserung' bloß individuell sei, ist eine Illusion [...]: die Synthese der Bestandteile der Individualität ist 'individuell', doch verwirklicht und entwickelt sie sich nicht ohne eine Tätigkeit nach außen, die äußeren Verhältnisse verändernd, beginnend bei denen zur Natur bis hin zu denen zu den anderen Menschen, in unterschiedlichem Grad in den verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen, in denen man lebt, bis zum weitesten Verhältnis, das die gesamte menschliche Gattung umfasst. Daher kann man sagen, dass der Mensch wesentlich 'politisch' ist, denn die Tätigkeit zur bewussten Umformung und Leitung der anderen Menschen verwirklicht seine 'Menschlichkeit', sein 'menschliches Wesen'." (H. 10.II, 48.II)

Philosophie der Praxis

Wie Gramsci ist Brecht durch die Erfahrung des Faschismus, der auch in Deutschland in der einen oder andern Form schon Jahre vor der Einsetzung Hitlers den politischen Horizont der konservativen Eliten mitprägte, zum Um- und Neudenken gebracht worden. Mit Ungeduld sieht Brecht die Lernlosigkeit vieler Linker. Angesichts 1933 wird "kein besserer Revolutionär [...] seine Anschauungen ungeprüft gelassen haben" -- die Notiz geht weiter mit Hohn auf diejenigen, die vom "unvermeidlichen" Kommen der "nächsten" Formation sprechen. Jetzt halt der übernächsten (22.1, 48f; XX, 93). Gramsci und Brecht unterscheiden sich nicht so sehr durch die Position, die sie jeweils einnehmen (Parteiführer vs. Stückeschreiber), als durch die Dimension, innerhalb welcher sich jeder von ihnen der Aufgabe der Prüfung der tradierten linken Anschauungen oder des Umdenkens im Sinne einer Umgestaltung marxistischen Denkens vor allem annimmt. Ich übergehe hier Brechts, bedenkt man seine Intellektuellensatire des Tui-Komplexes, überraschend gramscianischen Einsichten zur Bedeutung der Intellektuellen; ich übergehe auch Brechts, bedenkt man seinen Spott auf die Moral, nicht weniger überraschendes Verständnis für die Bedeutung der ethisch-politischen Dimension in der Politik. Um all dies soll es an anderer Stelle gehen.[46] Was nicht übersprungen werden darf ist das, was Antonio Labriola, der 'erste Marxist Italiens', vor hundert Jahren als die Philosophie des historischen Materialismus begriffen hat, "sozusagen", wie er hinzusetzt, denn in der ersten Generation der Marxisten war die Philosophie eher verachtet und galt als historisch abgetan. Labriola meinte "zum Beispiel solche Postulate wie: in der Entwicklung der Praxis liegt das Wesen[47] , d.h. die geschichtliche Entwicklung des Menschen - und mit 'Praxis' soll unter diesem allumfassenden Gesichtspunkt der übliche Gegensatz zwischen dem Praktischen und dem Theoretischen aufgehoben werden, denn die Geschichte ist, anders ausgedrückt, die Geschichte der Arbeit, und da die so ganzheitlich aufgefasste Arbeit[48] die entsprechend proportionierte und proportionale Entfaltung der geistigen und tätigen Anlagen impliziert, impliziert andererseits der Begriff der Geschichte der Arbeit die unbedingt gesellschaftliche Form dieser Arbeit und den Wechsel dieser Form" (1974, 302f). Diese Überlegung führt Labriola zur Idee einer "Philosophie der Praxis" als "Kernpunkt des historischen Materialismus" (318).
Auf Umwegen, die ich in der Einleitung zu Band 6 der Gefängnishefte skizziert habe, ist aus Labriolas Bemerkung der Taufakt für Gramscis Projekt als einer Philosophie der Praxis geworden. Zu prüfen ist, ob dieser Name auch als Titel für das brechtsche Philosophieren in Frage kommt. Ich wende mich zu diesem Zweck der Wahrheitsfrage und der Frage nach der objektiven Realität zu. Bei der Behandlung dieser Fragen setzt Gramsci nicht anders als Brecht noch einmal bei den marxschen Thesen über Feuerbach an.
Gramsci und Brecht begreifen, dass in den Thesen über Feuerbach eine neue Art des Philosophierens auftaucht. Der Gefangene Gramsci übersetzt sich die Thesen noch einmal, und es lässt sich sehen, wie ihre Motive von da an seine Aufzeichnungen durchziehen. -- Anders als Gramsci bildet Brecht, der Labriola nicht kennt, aus dem Schlüsselbegriff der Feuerbach-Thesen, "Praxis", keinen Namen seines Projekts, das er jedoch unter dem Titel "eingreifendes Denken" als praxisorientiert auszeichnet (vgl. dazu Ruoff Kramer 1997). Ausgangspunkt ist der widersprüchliche Prozesscharakter der Wirklichkeit. Wie eine Korrektur zu Wittgensteins Eröffnungssatz zum Tractatus logico-philosophicus: "Die Welt ist alles, was der Fall ist" (W 1, 11), notiert Brecht: "Die Realität ist nicht nur alles, was ist, sondern alles, was wird. Sie ist ein Prozess. Er verläuft in Widersprüchen. Wird er nicht in seinem widersprüchlichen Charakter erkannt, wird er überhaupt nicht erkannt." (22.1, 458) "Prozesse kommen in Wirklichkeit überhaupt nicht zu Abschlüssen. Es ist die Beobachtung, die Abschlüsse benötigt und legt. Im großen werden natürlich Entscheidungen getroffen (und angetroffen), gewisse Bildungen ändern oder verlieren gar ihre Funktionen, ruckweise zerfallen Qualitäten, ändert sich das Gesamtbild."
Wie Gramsci verwirft Brecht den "Objektivismus" vieler Marxisten -- mit gewissen Schwankungen beim Versuch, auf dem schmalen Grat zwischen Objektivismuskritik und Realitätsverlust zu balancieren[49]. Nicht etwa werden Realität und Objektivität bestritten, sondern die philosophische Grammatik dieser Ausdrücke, wie wir in Anlehnung an Wittgenstein sagen könnten, soll untersucht und die Auffassung dessen, was sie meinen, soll dementsprechend berichtigt werden. Der Gedanke geht nach zwei Seiten. Die erste betrifft die Veränderbarkeit des Zu-Erkennenden: "Zustände und Dinge, welche durch Denken nicht zu verändern sind (nicht von uns abhängen), können nicht gedacht werden." (21, 521) Die zweite betrifft die Tätigkeit des Erkennenden selbst bzw. das Hineinwirken der Erkenntnistätigkeit ins Zu-Erkennende. Nachdem Brecht notiert hat, dass objektivistische Sätze durch jegliches (nicht näher bestimmtes) Handeln "rektifiziert" werden, fährt er fort: "Bekämpfe Sätze, welche durch bestimmtes Handeln rektifiziert werden, wie den Satz 'Große Männer machen die Geschichte', nicht als Objektivist, das heißt, indem du Sätze setzt, die durch kein bestimmtes Handeln rektifiziert werden können, wie den Satz 'Es gibt unüberwindliche (gesellschaftliche) Tendenzen und so weiter'!" (21, 575; XX, 69) Brecht integriert -- wiederum wie Gramsci -- das Indeterminismustheorem der modernen Physik und überträgt die Unschärferelation, die Einsicht, "das Untersuchte sei durch die Untersuchung verändert worden" (22.2, 730; XVI, 577), aufs Feld des Handelns. Wenn "praktikable Definitionen" solche sind, welche "die Handhabung des definierten Feldes gestatten", dann tritt "unter den determinierenden Faktoren [...] immer das Verhalten des Definierenden auf" (21, 421; XX, 168). Er kritisiert folglich den Begriff der "Notwendigkeit" im Sinne einer Zwangsläufigkeit eines Ereignisses. "In Wirklichkeit gab es aber widersprechende Tendenzen, die streitbar entschieden wurden, das ist viel weniger." (21, 523; XX, 156)
Und Gramsci? "Außenwelt" vom "Standpunkt der fertigen Phänomene" (Marx, MEW 24, 218) statt in ihrem Zustandekommen zu betrachten, ist nach ihm sedimentierter Schöpfungsglaube. Er zeigt dies an der gedankenlosen Vorstellung, dass "der Mensch die Welt bereits fix und fertig vorgefunden hat, ein für alle Male katalogisiert und definiert" (H. 11, 17). Gramsci lädt zu dem Gedankenexperiment ein, sich "außergeschichtliche und außermenschliche Objektivität" vorzustellen, und fragt: "Aber wer wird eine solche Objektivität beurteilen? Wer wird sich auf diese Art von "Standpunkt des Kosmos an sich" stellen können, und was bedeutet ein solcher Standpunkt? Es lässt sich sehr gut behaupten, dass es sich um ein Residuum des Gottesbegriffs handelt" (H. 11, 17, 1411). Die außer-, vor- und nachmenschliche "Realität" ist nur eine "Metapher". Der Paragraph endet: "Wir kennen die Realität nur in Beziehung zum Menschen, und da der Mensch ein geschichtliches Werden ist, sind auch Erkenntnis und Realität ein Werden, ist auch Objektivität ein Werden usw." (1412). Dies übersetzt das unüberschreitbare Moment von Wahrheit bei Kant aus der transzendentalen in die geschichtliche Immanenz.
Gramsci nimmt die populäre Idealismuskritik, in der die katholische Kirche und eine von der Grundfrage der Philosophie umgetriebene kommunistische Partei sich trafen, als agitatorische Ausbeutungsform der Kluft "zwischen Wissenschaft und Leben". Die Intellektuellen verkörpern beides, die Kluft und deren organi(satori)sche Überbrückung. Der historische Materialismus ist entstanden durch Transposition (Aufhebung) der idealistischen Problematik, die als aufgehobene immer ein Moment von Wahrheit behält. Er will "zeigen, dass die 'subjektivistische' Auffassung, nachdem sie dazu gedient hat, die Philosophie der Transzendenz auf der einen Seite und die naive Metaphysik des Alltagsverstands und des philosophischen Materialismus zu kritisieren, ihr Sichbewahrheiten und ihre historizistische Interpretation einzig in der Konzeption der Superstrukturen finden kann, während sie in ihrer spekulativen Form nichts anderes als ein bloßer philosophischer Roman ist" (1410f).
Gramscis These, die den Idealismus im dialektischen Dreifachsinn 'aufhebt', besagt nun: "Objektiv bedeutet immer 'menschlich objektiv', was die genaue Entsprechung zu 'geschichtlich subjektiv'[50] sein kann, objektiv würde demnach 'universell subjektiv'[51] bedeuten." (1411) Die Universalisierung des Praktisch-Subjektiven ist kein primär gedanklicher, sondern ein geschichtlicher Prozess: Politik und Kampf. Das ist zugleich die geschichtliche Wirklichkeit von Ideologiekritik. Denn der Einsatz ist der geschichtliche Vereinigungsprozess der Menschheit. Die Objektivität ist eine Funktion der Vergesellschaftung: und zugleich ist sie die geschichtliche (vergesellschaftlichte) Subjektivität:

"Der Mensch erkennt objektiv, insofern die Erkenntnis für die gesamte in einem einheitlichen kulturellen System geschichtlich vereinte menschliche Gattung wirklich ist; aber dieser geschichtliche Vereinigungsprozess erfolgt mit dem Verschwinden der inneren Widersprüche, welche die menschliche Gesellschaft zerreißen, Widersprüche, die die Bedingung für die Gruppenbildung und für die Entstehung der Ideologien sind, die nicht konkret universell sind, sondern durch den praktischen Ursprung ihrer Substanz unmittelbar hinfällig gemacht werden. Es gibt daher einen Kampf um die Objektivität (um sich von den partiellen und trügerischen Ideologien zu befreien), und dieser Kampf ist der Kampf um die kulturelle Vereinigung der menschlichen Gattung selbst. Was die Idealisten 'Geist' nennen, ist nicht Ausgangspunkt, sondern Ankunftspunkt, das Ensemble der Superstrukturen im Werden, hin zur konkreten und objektiv universellen Vereinigung, und nicht etwa eine einheitliche10c Voraussetzung usw." (1411f).

Bisher leistete dies am ehesten die Naturwissenschaft und Technik. "Die Experimentalwissenschaft war (bot) bisher das Terrain, auf dem eine solche kulturelle Einheit das Maximum an Ausdehnung erreicht hat" -- "die am meisten objektivierte und konkret universalisierte Subjektivität" -- und nicht die Gesellschaftswissenschaft (1412).

Wahrheit

Wenden wir uns nun der Wahrheitsfrage zu. "Eine Aussage oder Darstellung ist dann eine Wahrheit", heißt es bei Brecht, der hier wie an vielen anderen Stellen Gedanken des Logischen Empirismus sich anverwandelt[52], "wenn sie eine Voraussage gestattet. Bei dieser Voraussage muss aber der Aussagende als Handelnder auftreten. Er muss auftreten als einer, der für das Zustandekommen des Vorausgesagten nötig ist." (22.1, 96; XX, 190) Wahrheit ist "nicht nur eine moralische Kategorie [...] (Unbestechlichkeit, Wahrheitsliebe, Gerechtigkeit), sondern auch eine des Könnens. Sie muss produziert werden. Es gibt also Produktionsweisen der Wahrheit." (22.1, 96; XX, 189) Nicht etwa ist sie zwar "'an sich vorhanden', muss aber erst entdeckt werden; sondern sie erwächst aus dem Nachweise der Änderbarkeit dieser Situation oder Person, und zwar nicht nur der Veränderlichkeit, die an sich gegeben ist, sondern jener, der sie unterworfen werden kann -- von Seiten des Beschauers als Masse. Also die Wahrheit ist eine Frage der Praxis" (21, 360). Hier lässt sich sehen, wie Brecht die zweite der marxschen Feuerbach-Thesen ausarbeitet. Dialektisierend löst er eine verdinglichende Vorstellung von Wahrheit auf: "Die Wahrheit über ein Ding bedingt die Wahrheit über andre Dinge. Denn ein Ding wird real erst, wenn es in seiner Beziehung zu einem andern erscheint, und um so realer, je mehr Dinge zu ihm in Beziehung treten. Die Wahrheit ist nie in einem Satze zu sagen. Jeder Satz ist in seiner Wahrheit vom Zweck abhängig." (21, 428) Umgekehrt ist "die Unwahrheit [...] ein Prozess, keine Summe von möglichen und glaubbaren Tatsachlosigkeiten, und sie hat so lange schon alle Ausdrucksformen ergriffen und vor den Fragestellungen nicht haltgemacht" (21, 585).
Die Einsicht, dass die Wahrheit nie in einem Satze zu sagen ist, erinnert an die Einsicht der analytischen Philosophie, dass sie die Theorie der Rationalität nicht mehr im Alleingang entwickeln kann, sondern dass ihre "Wahrheit", wie Habermas referiert (1981, II, 588), sich "nurmehr von der glücklichen Kohärenz verschiedener theoretischer Fragmente erhoffen lässt" -- "die Theorien, ob sozialwissenschaftlicher oder philosophischer Herkunft, müssen zueinander passen" -- "Kohärenz ist auf der Ebene, auf der Theorien im Verhältnis der Ergänzung und der wechselseitigen Voraussetzung zueinander stehen, einziges Kriterium der Beurteilung, denn wahr oder falsch sind nur die einzelnen Sätze, die sich aus den Theorien ableiten lassen." Diese Kohärenz wird als entscheidend erkannt, sobald "fundamentalistische Ansprüche" aufgegeben sind. Ist es nur eine zufällige Wortgleichheit oder taucht hier ein dem gramscischen Gedanken verwandter Kohärenzbegriff wieder auf? Mir scheint, dass wir hier, in der dünnen Luft analytischer Epistemologie, tatsächlich einem abstrakten Ausläufer eben der Problematik begegnen, die Gramsci auf der Ebene individueller Handlungsfähigkeit oder Lebenskunst, wie wir mit Brecht sagen können, analysiert hat.

Experimentelles Denken

Das Kleine Organon ist eine der wenigen Schriften, in denen Brecht bei Lebzeiten "Theorie", wenngleich nur theaterbezogen verdichtet, veröffentlicht hat. (Könnte es sein, dass er seiner selbst als Philosophierender nicht sicher war? Oder wollte er nur seine Anerkennung als Schöpfer eines neuen Theaters nicht stören?) Der Titel eines Organon ist von Bacons Novum organon inspiriert. Das ist nicht zufällig. Hier gibt es viele Gemeinsamkeiten in der Ablehnung von Spekulation. Positiv lassen sie sich zusammenfassen im Begriff des experimentellen Denkens. Entwerfen und Verwerfen werden durch Erfahrung miteinander vermittelt. Die subjektive Tätigkeit rückt in die Schlüsselposition und findet sich kraft experimenteller Handhabung des marxschen Kriteriums der Praxis dennoch am Gegenpol zum Subjektivismus. Auch für Gramscis Philosophie der Praxis ist das Experiment von paradigmatischer Bedeutung als "erste Zelle der neuen Produktionsmethode, der neuen Form tätiger Einheit zwischen Mensch und Natur". Arbeiter und Wissenschaftler sind in der (gesellschaftlichen) Sache aufeinander verwiesen: "Der Wissenschaftler-Experimentator ist [auch] ein Arbeiter, kein reiner Denker, und sein Denken wird fortwährend durch die Praxis kontrolliert" und kontrolliert umgekehrt fortwährend die Praxis (H. 11, 34).
Brecht praktiziert daneben einen anderen Sinn von dialektischem als "experimentellem Denken", den des Verflüssigens geronnener Vorstellungen. Dialektik fasst er als "Denkmethode oder vielmehr eine zusammenhängende Folge intelligibler Methoden, welche es gestattet, gewisse starre Vorstellungen aufzulösen und gegen herrschende Ideologien die Praxis geltend zu machen" (21, 519; XX, 152). Im weiteren Sinn geht es dabei nicht nur um Lehrsätze, sondern um Anstiftungen zur Subversion einer fesselnden Ordnung. "Erkennen" wird so im altbiblischen Sinn aus der ideellen Abstraktion herausgeholt: Die Bäume 'erkennen' uns auf ihre Weise, wenn sie unsere Kohlensäure 'einatmen' wie wir ihren Sauerstoff. Und fast spinozistisch dynamisiert Brecht das Dasein und verbindet es mit dem Bewusstsein: "Alles Seiende kommt zum Bewusstsein, indem es sich dagegen wehrt, nicht zu sein, ein Bestreben, das es in sich wahrnimmt und das zugleich das Bestreben ist, andere Verbindungen einzugehen" (21, 425; XX, 172)
Mit einer gewissen Differenz zu Gramsci wendet sich Brecht "gegen das Konstruieren zu vollständiger Weltbilder" (XII, 463) und die "Weltbildhauer" und fordert: "Du sollst dir kein Bild von der Welt machen des Bildes willen." (21, 349; XX, 50). Er verlangt vom Denken einen konkreten Nutzensbezug, der die Argumente wie Schneebälle auffassen lässt, die nicht für die Ewigkeit gedacht sind (vgl. XII, 451f). Der Abbildtheorie der Erkenntnis setzt er die sprachlich nur in Nuancen, sachlich radikal verschiedene Forderung nach praktikablen Abbildungen entgegen, die mit ihrer praktischen Orientierung auch ihren "subjektiven" Standpunkt offen zeigen.

Wiederaufnahme der Eingangsfrage

Was also heißt und zu welchem Zweck nützt Philosophieren mit Gramsci und Brecht? Im alten Sinn beruhte Philosophie auf anschauendem Denken, gehörte zum bíos theoretikós. Noch Hegel streicht die von Aristoteles hervorgehobene Nutzlosigkeit im Sinne der Selbstzweckhaftigkeit hervor und erklärt: "Verkehr mit der Philosophie ist als der Sonntag des Lebens anzusehen." (W 10, 411f) Dagegen bewegt sich das hier skizzierte Denken in unserem geschichtlichen Werktag und ist wesentlich experimentelles Denken. Indem alles durchs Nadelöhr der Tätigkeit im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse hindurch muss und Erkenntnistheorie zugleich "vor allem Sprachkritik sein" soll (21, 413; XX, 140), bildet es eine offene Philosophie der Praxis. Sie ist keine Philosophie der vorgängigen Einheit oder der Totalität. "Tatsächlich kann man sich eine Totalität nur bauen, machen, zusammenstellen, und man sollte das in aller Offenheit tun, aber nach einem Plan und zu einem bestimmten Zweck." (21, 535) Das Ganze der Philosophie der Praxis erbaut sich von unten nach oben, zeigend, wozu es nützt. Sie ist daher zugleich das konsequenteste Denken der Diesseitigkeit. Wie der Pragmatist William James "Tatsachen und Werte als untrennbar" begriffen hat (Putnam, 11 u.ö.), so denken auch Gramsci und Brecht die politisch-ethische Dimension von unten nach oben, wenn man so will, anders als die Moralphilosophen, die mit Ausnahme Epikurs zumeist in mehr oder weniger verschämter Weise ein normatives Jenseits verkünden, ein Sittengesetz vor jeder Gesetzgebung und ohne die "politischen" Umstände einer solchen. Gramsci und Brecht führen vor, dass die Alternative nicht Monismus oder Dualismus[53] heißt. Die Postmoderne hat sich, wie Fredric Jameson (1998) gezeigt hat, viele ihrer Gedanken ohne Nennung der Herkunft angeeignet, kaum je ohne Beschädigung des Sinns. Auch bei Derrida bildet der Angriff auf Dualitäten ein Grundmotiv. Doch führt dies bei ihm, wie Hilary Putnam sagt, "in eine Art Weltverlust, einen Verlust des 'Außerhalb des Textes'. Dagegen hat James immer darauf beharrt, "dass wir eine gemeinsame Welt teilen und wahrnehmen, dass 'wir die Wahrheit, bei deren Erschaffung wir mithelfen, erfassen'" (Putnam 1995, 30f). Bei Gramsci und Brecht wird aus dieser gemeinsamen Welt im Allgemeinen die besondere gesellschaftliche Welt mit ihren Antagonismen und ihren Naturverhältnissen, in denen wir leben. Und in den Praxishorizont rückt die Vergesellschaftung. So schlägt der Pragmatismus um in marxistische Philosophie der Praxis. Wenn Heidegger sagt: "auch das wesentliche Denken ist ein Handeln" (Was ist Metaphysik, 50), so könnte Brecht das für das eingreifende Denken mit gewissen Ergänzungen und Einschränkungen annehmen. Denker-Hybris, falsche Selbsterhöhung eines Intellektuellen, spricht aber aus Heideggers Satz: "So ist das Denken ein Tun, aber ein Tun, das zugleich alle Praxis übertrifft." (Humanismusbrief, 115) Und doch ist das an der Wende zum 21. Jahrhundert en vogue, während Brecht für veraltet erklärt wird. Eine Reflexion Brechts aus der Zeit der Faschisierung Deutschlands trifft bei aller Andersartigkeit der Verhältnisse etwas von diesem fin de siècle:

"In den Zeiten der Schwäche fehlt es oft nicht an richtigen Leitsätzen, sondern an einem einzigen. Von der Lehre passt ein Satz zum anderen, aber welcher passt zum Augenblick? Es ist alles da, aber alles ist zuviel. Es fehlt nicht an Vorschlägen, aber es werden zu viele verfolgt. Es fehlt nicht an Wahrnehmungen, aber sie werden rasch vergessen. In den Zeiten der Schwäche ist man engagiert, und man engagiert sich nicht. / In den Zeiten der Schwäche / ist vieles wahr, aber es ist gleich wahr; ist viel nötig und kann weniges geschehen; der Ausgeschaltete ist in Ruhe versetzt und hat keine Ruhe." (GA 21, 585)


39 Zur Zitierweise: Bei Brecht sind die Bände der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe in arabischen, die der Gesammelten Werke von 1968 (Frankfurt/M) in römischen Ziffern angegeben. Die Zitate aus Gramscis Gefängnisheften folgen der kritischen Gesamtausgabe (Hamburg 1991-1999); sie werden durch Heftnummer und Paragraph nachgewiesen, bei längeren Paragraphen zusätzlich durch die Seitenzahl.

40 Foucault wird die "Künste der Existenz" (1986a, 18; 1986b, 60) ohne den brechtschen Kontext ins Zentrum seiner neuen Ethik stellen. In der Einleitung zur amerikanischen Ausgabe des Anti-Ödipus von Gilles Deleuze und Felix Guattari, den er als "Ethik-Buch" begreift, gliedert er die Lebenskunst in ars erotica, ars theoretica, ars politica; in allen Bereichen antwortet sie auf "Fragen, die sich weniger darum drehen, warum dies oder jenes zu tun sei, als vielmehr darum, wie man weiterkommt." (Foucault 1978, 227)

41 Der Ausdruck coerenza mit dem Adjektiv coerente (vgl. etwa Heft 11, 12) ist für Gramscis Denken besonders wichtig. Damit ein Individuum Handlungsfähigkeit gewinnt, muss es ein gewisses Maß an Kohärenz erreichen usw. Früheren Übersetzungen ging dieser Zusammenhang verloren. Sie gaben etwa derivato coerente ("kohärentes Derivat" -- vgl. Heft 11, 50) mit "organisch abgeleitetes Prinzip" wieder (Bochmann), weil der Term nicht als von Gramsci spezifisch akzentuiert erkannt wurde; statt "kohärente Begriffe" hieß es "systematisch miteinander verbundene Begriffe" (Bochmann) bzw. "in sich geschlossene systematische Anschauungen" (Zamis#umgekehrtes ' aufs s#).

42 Im Original: "accolte senza beneficio d'inventario". Die Redeweise ist der Sprache des Erbrechts entnommen. Die "Rechtswohltat des Inventars" meint, dass man die Annahme einer Erbschaft von einem zunächst zu erstellenden Inventars abhängig machen kann.

43 Vgl. den Artikel Ausdruck in Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1.

44 hygiaínomen ... hygieía, De anima, 414 a 7; Gesundes wird >durch die Gesundheit< gesund gemacht (práttetai), EN, 1129 a 15.

45 Unter diesem Namen wird die These von Aaron Antonovsky aus Tel Aviv vorgetragen (vgl. den Bericht von Claus Peter Müller in der FAZ vom 21. Januar 1994).

46 Vgl. das letzte Kapitel in: Haug 1996, "Was spricht gegen den Moralismus?"

47 Im Original: "natura", entsprechend übersetzt Anneheide Aschieri-Osterlow mit "Natur"; Labriola variiert hier jedoch die 6. Feuerbachthese, wo Marx vom menschlichen "Wesen" spricht was im Italienischen mit "natura" wiedergegeben wird (so auch in Gramscis Übersetzung; vgl. Gefängnishefte, Anm. 2b zu Heft 7, 35, Bd. 4, A393).

48 Bei Habermas (und vergröbert in seiner Schule) wird diese "ganzheitliche" Auffassung der Arbeit aufgegeben sein zugunsten der Schrumpfform von Arbeit als einer Art stummen und hinsichtlich der Zwecke inkompetenten produktiven Stoffwechsels mit der Natur. Er verwechselt ein gedankenloses Abbild fremdbestimmter Arbeit mit dem von Arbeit schlechthin. Dem ersten Teil der Deutschen Ideologie meint Habermas entnehmen zu können, "dass Marx" -- er vergisst Engels -- "nicht eigentlich den Zusammenhang von Interaktion und Arbeit expliziert, sondern unter dem unspezifischen Titel der gesellschaftlichen Praxis eins auf das andere reduziert, nämlich kommunikatives Handeln auf instrumentales zurückführt" (1968, 45). Für Marx gelte: "alles löst sich in die Selbstbewegung der Produktion auf" (46). -- Wie ein derart kluger Mann wie Habermas so an einem Text vorbeilesen kann, ist schwer verständlich. Im Theorieteil der Deutschen Ideologie (vgl. MEW 3, 30ff) legen Marx und Engels fünf "Seiten der sozialen Tätigkeit" oder "Seiten der ursprünglichen geschichtlichen Verhältnisse" auseinander, die ausdrücklich nicht als Stufen, sondern als Seiten oder Momente begriffen werden, "die vom Anbeginn der Geschichte an [...] zugleich existiert haben und sich noch heute [...] geltend machen" -- oder auch Verhältnisse, die "gleich von vornherein in die geschichtliche Entwicklung (eintreten)", also gleichursprünglich und keineswegs aufeinander reduzierbar sind: (1) Lebens- und Lebensmittelproduktion, (2) "Erzeugung neuer Bedürfnisse", (3) Familie ("im Anfange das einzige soziale Verhältnis", später ein untergeordnetes), (4) Gesellschaftlichkeit ("dass eine bestimmte Produktionsweise [...] stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens [...] vereinigt ist"), schließlich (5) Sprache ("Bewusstsein" wird als sprachlich artikuliertes Phänomen gefasst). So tastend diese Bestimmungen noch sind, sind sie doch dem von Habermas referierten Reduktionismus diametral entgegengesetzt.

49 "Es handelt sich selbstverständlich nicht um eine Liquidierung des Interesses an der Kausalität; im Gegenteil sind diese Fragen, soweit ich das beurteilen kann, auch in der Physik, gerade bei solchen Bemühungen aufgetaucht, die eine tiefer gehende Meisterung der Kausalität bezwecken, als sie bisher möglich schien. [...] Die Headlines der wissenschaftlichen Boulevards: 'Die Kausalität aufgegeben!' sind Unsinn. Man ist lediglich bei einer neuen Definition der Kausalität angelangt." (22.1, 395; XV, 279) Es folgen Passagen, in denen Brecht sich in Richtung auf einen feldtheoretischen Kausalitätsbegriff, bezogen aufs Gesellschaftliche (Individuum und Masse), vorantastet.

50 Riechers, der diesen Verstoß gegen den philosophischen Materialismus nicht fassen konnte, setzte 1967 dafür "historisch Objektives" (siehe auch die folgende Fußnote). Für die auf deutsche Übersetzungen angewiesene Gramsci-Rezeption war also Gramscis von der ersten Feuerbachthese ausgehende Umwälzung der materialistischen Erkenntnistheorie verstellt.

51 Riechers 1967: "universell objektiv".

52 Wichtig ist Rudolf Carnaps Gedanke von der Aufhebung einfacher Prädikationen in "Relationssätze" (vgl. 1932, 16-19), der jedoch dadurch umfunktioniert wird, dass er in den Rahmen der geschichtsmaterialistischen Praxisauffassung eingefügt wird. -- Ulrich Sautter hat solche Einflüsse sorgfältig belegt, wobei er diese bisher oft verdrängte Wahrheit zu weit in die entgegengesetzte Richtung zurückbiegt, wenn es sich ihm "geradezu aufdrängt, von einer spezifisch brechtschen Variante des Logischen Empirismus zu sprechen" (1995, 688), und er von "zahlreichen ästhetischen Neuorientierungen Brechts aus den dreißiger und vierziger Jahren" meint, dass "sie konzipiert waren: als ein zusätzlicher Zweig am Unternehmen der wissenschaftlichen Philosophie" (709). Das unterschätzt die eigenständige Anverwandlung und Umfunktionierung durch Brecht. Aber Sautter hat zweifellos recht mit der Feststellung, dass durch den Nazismus und vollends durch den Kalten Krieg eine höchst fruchtbare Begegnung zwischen marxistischem Denken und dem vor allem von den Fortschritten der Physik inspirierten Denken des Wiener Kreises von beiden Seiten abgebrochen worden ist, dass es nur am beidseitigen Konformitätsdruck und der Bereitschaft, ihm zu entsprechen, gelegen habe, dass sich der logische Empirismus ins Akademische zurückgezogen habe.

53 Fast immer missverstanden worden ist Gramscis Einsicht, dass auch die "Auffassung von der 'Objektivität der Außenwelt'" dualistisch ist (vgl. H. 10, 41.I, 1304).

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