-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Elfter Versuch "Denke
nicht als Denker." Der Sinn des Philosophierens Die erste Schwierigkeit liegt im
Ausdruck Philosophieren: Was werden wir unter Philosophieren verstehen?
Die Frage scheint unsinnig, die Antwort selbstredend: Unter Philosophieren
versteht man Philosophie treiben. Soll das heißen, dass wir in der
Weise der Philosophen denken wollen? Aber welcher? Und sind wir denn Philosophen,
dass wir in dieser Weise denken wollen? Wenden wir uns an die Institution
Philosophie, wo man Philosophie treibt, indem man sich mit der Philosophie
der Philosophen beschäftigt. Heißt das, dass wir mit Brecht
und Gramsci das tun wollen, was in der Institution Philosophie getan wird? Der gemeinsame Ausgangspunkt bei Gramsci und Brecht Unsere Eingangsfrage nach dem Sinn
des Philosophierens stößt nun bei Gramsci und Brecht auf einen
gemeinsamen, vom Philosophieren der Institution wie dem Denken nach der
Weise der Denker gleichermaßen entfernten Zugang zur Auffassung
von Philosophie. Ohne voneinander zu wissen, bilden sie etwa gleichzeitig
einen Philosophiebegriff von unten. "die eigene Tätigkeitssphäre zu wählen, an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen, Führer seiner selbst zu sein und sich nicht einfach passiv und hinterrücks der eigenen Persönlichkeit von außen den Stempel aufdrücken zu lassen" (H. 11, §12, Bd. 6, 1375). "Wenn die Weltauffassung nicht kritisch und kohärent, sondern zufällig und zusammenhangslos ist, gehört man gleichzeitig zu einer Vielzahl von Masse-Menschen, die eigene Persönlichkeit ist auf bizarre Weise zusammengesetzt: es finden sich in ihr Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrittensten Wissenschaft, Vorurteile aller vergangenen, lokal bornierten geschichtlichen Phasen und Intuitionen einer künftigen Philosophie, wie sie einem weltweit vereinigten Menschengeschlecht zueigen sein wird. Die eigene Weltauffassung kritisieren heißt mithin, sie einheitlich und kohärent zu machen und bis zu dem Punkt anzuheben, zu dem das fortgeschrittenste Denken der Welt gelangt ist. Es bedeutet folglich auch, die gesamte bisherige Philosophie zu kritisieren, insofern sie verfestigte Schichtungen in der Popularphilosophie hinterlassen hat. Der Anfang der kritischen Ausarbeitung ist das Bewusstsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein 'Erkenne dich selbst' als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses, der in einem selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, übernommen ohne Inventarvorbehalt[42] . Ein solches Inventar gilt es zu Anfang zu erstellen." (AaO., 1376) Was gegen solche Sätze, die den Anfang von Gramscis Notizen zu einer Einleitung und Einführung ins Studium der Philosophie und der Kulturgeschichte bilden, am meisten zu sprechen scheint, ist die Resignation derer, denen die Verhältnisse keine Zukunft zu ermöglichen scheinen. Daher sprechen solche Sätze der Möglichkeit nach gegen solche Verhältnisse, und die Verständigung über das, was wir je von uns aus wollten, ist die Probe aufs Exempel einer solchen Möglichkeitserfahrung. Das Aufmachen einer existenziellen Zukunftswerkstatt bringt die Einzelnen dazu, aus sich herauszugehen. Sie erfinden Gesellschaft neu und treten dadurch in die Geschichte ein. -- Das sind Tendenzaussagen über eine mögliche Aufgabe oder aufgegebene Möglichkeit. Sie ist aufgegeben im Doppelsinn: unsere menschliche Wesenswirklichkeit gibt sie uns auf, während die historisch gewordenen Verhältnisse uns mechanisch dazu bringen, sie aufzugeben. Der Beharrungseffekt hält uns fremd in falscher Vertraulichkeit. Das gehört zu den ältesten Erfahrungen, an denen sich Philosophieren entzündet hat. Von Parmenides und dem Höhlengleichnis, das der platonische Sokrates erzählt, bis zu Marx' Übersetzung der von den Philosophen geschilderten Entfremdung in die kapitalistische Gestalt des In-der-Welt-Seins als des Seins "innerhalb der Welt" (MEW 2, 113): In ihr finden wir uns ebenso spontan wie bewusstlos-selbstverständlich in einer "Religion des Alltagslebens", in deren "entfremdeten und irrationellen", durch die Herrschaft der Wertformen und des Verwertungsprozesses bestimmten Formen wir uns "völlig zu Hause fühlen", weil sie es sind, worin wir uns bewegen und mit denen wir es "tagtäglich zu tun haben" (MEW 25, 838). Gramsci ergänzt: unser Bewusstsein ist nicht reine Gegenwart, also auch nicht einfache kapitalistische Gegenwart, sondern von einer Ungleichzeitigkeit bestimmt. Ohne dass sie voneinander wissen, sucht auch Ernst Bloch in eben den 1930er Jahren, in denen diese Gedanken aufgeschrieben wurden, solche Ungleichzeitigkeit in ähnlicher Absicht zu dialektisieren (GA 4, 104ff). Kohärenz und Hegemonie als philosophische Tatsache Gramscis Kohärenz ist nicht
als homogene -- Althusser würde vielleicht sagen: expressive[43]
-- Totalität zu verstehen, sondern als ein Sich-Zusammen-Nehmen zur
Handlungsfähigkeit. Sie leugnet nicht Widersprüchlichkeit oder
Zerrissenheit, also das, was vom Standpunkt aristotelischer Logik Inkonsistenz
wäre, auch nicht Dezentriertheit, sondern sie setzt diese antiaristotelischen
Züge geradezu voraus. Neuerdings ist ein vergleichbarer Begriff von
"Kohärenz" im Rahmen einer medizinischen Theorie formuliert
worden. Der Gedanke findet sich bereits bei dem Arzt-Sohn Aristoteles
in Gestalt einer zunächst tautologisch wirkenden Aussage, die dem
Wesen der Gesundheit zuschreibt, dass sie anders und besser gesund mache,
als die ärztliche Medizin.[44]
Für die Theorie der Salutogenese[45]
ist Gesundheit jedenfalls kein Zustand, sondern ein Prozess, ja geradezu
eine Produktion. Der "sense of coherence" ist nach dieser Auffassung
entscheidend für diese Seite der Lebensfähigkeit. Dazu gehört,
die Welt zumindest in relevanten Hinsichten als verstehbar, sinnvoll und
beeinflussbar erfahren oder wenigstens deuten zu können. Der Kohärenzsinn
wird also wohl immer auch imaginäre Anteile enthalten, sich vielleicht
sogar als Selbsttäuschungsbedarf geltend machen. Habermas benennt
das Problem, dessen Fassung durch Gramsci ihm anscheinend unbekannt ist,
folgendermaßen: Der Alltagsverstand bzw. das Alltagsbewusstsein
ist "hoffnungslos zersplittert". "An die Stelle des falschen
tritt heute das fragmentierte Bewusstsein, das der Aufklärung
über den Mechanismus der Verdinglichung vorbeugt", was eine
der Bedingungen ist für die kapitalistische "Kolonialisierung
der Lebenswelt" (1981, II, 522). Kurz, Habermas formuliert das Problem
eigentümlich unlösbar, obwohl er zugleich als Theoretiker eigentümlich
glatte Lösungen kommunikativer Ethik präsentiert. Es ist, als
wäre ein einheitliches Bewusstsein, denn dies und nicht Handlungsfähigkeit
scheint er zu fassen, arbeitsteilige Angelegenheit des Theorie-Intellektuellen,
nicht der Leute selbst. Anders Gramsci. Jede und Jeder hat Zugang zum
Philosophieren, weil niemand nicht an seiner bzw. ihrer Kohärenz
wirkt. Als arbeitsteilige Spezialität des Theorie-Intellektuellen
würde er allenfalls eine Aufgabenstellung akzeptieren, wie Ulrich
Sautter (1995, 699, Fn. 47) sie bei Brecht beobachtet hat: "Anstöße
für eine Änderung aus den betrachteten Subjekten selbst heraus
zu geben [...], die Erkenntnis des Betrachtenden für den Betrachteten
selbst verwertbar zu machen: ein Vorgang, der die Autonomie des Objektes
unangetastet lässt." Beim Objekt handelt es sich ja hier um
ein Subjekt. Aber ist dieses als autonom zu unterstellen? Und gibt es
unter solchen antiideologisch gemeinten Bedingungen noch eine Schranke
gegen Wahngebilde oder Privatphilosophien? Philosophie der Praxis Wie Gramsci ist Brecht durch die
Erfahrung des Faschismus, der auch in Deutschland in der einen oder andern
Form schon Jahre vor der Einsetzung Hitlers den politischen Horizont der
konservativen Eliten mitprägte, zum Um- und Neudenken gebracht worden.
Mit Ungeduld sieht Brecht die Lernlosigkeit vieler Linker. Angesichts
1933 wird "kein besserer Revolutionär [...] seine Anschauungen
ungeprüft gelassen haben" -- die Notiz geht weiter mit Hohn
auf diejenigen, die vom "unvermeidlichen" Kommen der "nächsten"
Formation sprechen. Jetzt halt der übernächsten (22.1, 48f;
XX, 93). Gramsci und Brecht unterscheiden sich nicht so sehr durch die
Position, die sie jeweils einnehmen (Parteiführer vs. Stückeschreiber),
als durch die Dimension, innerhalb welcher sich jeder von ihnen der Aufgabe
der Prüfung der tradierten linken Anschauungen oder des Umdenkens
im Sinne einer Umgestaltung marxistischen Denkens vor allem annimmt. Ich
übergehe hier Brechts, bedenkt man seine Intellektuellensatire des
Tui-Komplexes, überraschend gramscianischen Einsichten zur Bedeutung
der Intellektuellen; ich übergehe auch Brechts, bedenkt man seinen
Spott auf die Moral, nicht weniger überraschendes Verständnis
für die Bedeutung der ethisch-politischen Dimension in der Politik.
Um all dies soll es an anderer Stelle gehen.[46]
Was nicht übersprungen werden darf ist das, was Antonio Labriola,
der 'erste Marxist Italiens', vor hundert Jahren als die Philosophie des
historischen Materialismus begriffen hat, "sozusagen", wie er
hinzusetzt, denn in der ersten Generation der Marxisten war die Philosophie
eher verachtet und galt als historisch abgetan. Labriola meinte "zum
Beispiel solche Postulate wie: in der Entwicklung der Praxis
liegt das Wesen[47] , d.h. die geschichtliche
Entwicklung des Menschen - und mit 'Praxis' soll unter diesem allumfassenden
Gesichtspunkt der übliche Gegensatz zwischen dem Praktischen und
dem Theoretischen aufgehoben werden, denn die Geschichte ist, anders ausgedrückt,
die Geschichte der Arbeit, und da die so ganzheitlich aufgefasste Arbeit[48]
die entsprechend proportionierte und proportionale Entfaltung der geistigen
und tätigen Anlagen impliziert, impliziert andererseits der Begriff
der Geschichte der Arbeit die unbedingt gesellschaftliche Form dieser
Arbeit und den Wechsel dieser Form" (1974, 302f). Diese Überlegung
führt Labriola zur Idee einer "Philosophie der Praxis"
als "Kernpunkt des historischen Materialismus" (318). "Der Mensch erkennt objektiv, insofern die Erkenntnis für die gesamte in einem einheitlichen kulturellen System geschichtlich vereinte menschliche Gattung wirklich ist; aber dieser geschichtliche Vereinigungsprozess erfolgt mit dem Verschwinden der inneren Widersprüche, welche die menschliche Gesellschaft zerreißen, Widersprüche, die die Bedingung für die Gruppenbildung und für die Entstehung der Ideologien sind, die nicht konkret universell sind, sondern durch den praktischen Ursprung ihrer Substanz unmittelbar hinfällig gemacht werden. Es gibt daher einen Kampf um die Objektivität (um sich von den partiellen und trügerischen Ideologien zu befreien), und dieser Kampf ist der Kampf um die kulturelle Vereinigung der menschlichen Gattung selbst. Was die Idealisten 'Geist' nennen, ist nicht Ausgangspunkt, sondern Ankunftspunkt, das Ensemble der Superstrukturen im Werden, hin zur konkreten und objektiv universellen Vereinigung, und nicht etwa eine einheitliche10c Voraussetzung usw." (1411f). Bisher leistete dies am ehesten die Naturwissenschaft und Technik. "Die Experimentalwissenschaft war (bot) bisher das Terrain, auf dem eine solche kulturelle Einheit das Maximum an Ausdehnung erreicht hat" -- "die am meisten objektivierte und konkret universalisierte Subjektivität" -- und nicht die Gesellschaftswissenschaft (1412). Wahrheit Wenden wir uns nun der Wahrheitsfrage
zu. "Eine Aussage oder Darstellung ist dann eine Wahrheit",
heißt es bei Brecht, der hier wie an vielen anderen Stellen Gedanken
des Logischen Empirismus sich anverwandelt[52],
"wenn sie eine Voraussage gestattet. Bei dieser Voraussage muss aber
der Aussagende als Handelnder auftreten. Er muss auftreten als einer,
der für das Zustandekommen des Vorausgesagten nötig ist."
(22.1, 96; XX, 190) Wahrheit ist "nicht nur eine moralische Kategorie
[...] (Unbestechlichkeit, Wahrheitsliebe, Gerechtigkeit), sondern auch
eine des Könnens. Sie muss produziert werden. Es gibt also Produktionsweisen
der Wahrheit." (22.1, 96; XX, 189) Nicht etwa ist sie zwar "'an
sich vorhanden', muss aber erst entdeckt werden; sondern sie erwächst
aus dem Nachweise der Änderbarkeit dieser Situation oder Person,
und zwar nicht nur der Veränderlichkeit, die an sich gegeben ist,
sondern jener, der sie unterworfen werden kann -- von Seiten des Beschauers
als Masse. Also die Wahrheit ist eine Frage der Praxis" (21, 360).
Hier lässt sich sehen, wie Brecht die zweite der marxschen Feuerbach-Thesen
ausarbeitet. Dialektisierend löst er eine verdinglichende Vorstellung
von Wahrheit auf: "Die Wahrheit über ein Ding bedingt die Wahrheit
über andre Dinge. Denn ein Ding wird real erst, wenn es in seiner
Beziehung zu einem andern erscheint, und um so realer, je mehr Dinge zu
ihm in Beziehung treten. Die Wahrheit ist nie in einem Satze zu sagen.
Jeder Satz ist in seiner Wahrheit vom Zweck abhängig." (21,
428) Umgekehrt ist "die Unwahrheit [...] ein Prozess, keine Summe
von möglichen und glaubbaren Tatsachlosigkeiten, und sie hat so lange
schon alle Ausdrucksformen ergriffen und vor den Fragestellungen nicht
haltgemacht" (21, 585). Experimentelles Denken Das Kleine Organon ist eine
der wenigen Schriften, in denen Brecht bei Lebzeiten "Theorie",
wenngleich nur theaterbezogen verdichtet, veröffentlicht hat. (Könnte
es sein, dass er seiner selbst als Philosophierender nicht sicher war?
Oder wollte er nur seine Anerkennung als Schöpfer eines neuen Theaters
nicht stören?) Der Titel eines Organon ist von Bacons Novum
organon inspiriert. Das ist nicht zufällig. Hier gibt es viele
Gemeinsamkeiten in der Ablehnung von Spekulation. Positiv lassen sie sich
zusammenfassen im Begriff des experimentellen Denkens. Entwerfen
und Verwerfen werden durch Erfahrung miteinander vermittelt. Die subjektive
Tätigkeit rückt in die Schlüsselposition und findet sich
kraft experimenteller Handhabung des marxschen Kriteriums der Praxis dennoch
am Gegenpol zum Subjektivismus. Auch für Gramscis Philosophie der
Praxis ist das Experiment von paradigmatischer Bedeutung als "erste
Zelle der neuen Produktionsmethode, der neuen Form tätiger Einheit
zwischen Mensch und Natur". Arbeiter und Wissenschaftler sind in
der (gesellschaftlichen) Sache aufeinander verwiesen: "Der Wissenschaftler-Experimentator
ist [auch] ein Arbeiter, kein reiner Denker, und sein Denken wird fortwährend
durch die Praxis kontrolliert" und kontrolliert umgekehrt fortwährend
die Praxis (H. 11, 34). Wiederaufnahme der Eingangsfrage Was also heißt und zu welchem Zweck nützt Philosophieren mit Gramsci und Brecht? Im alten Sinn beruhte Philosophie auf anschauendem Denken, gehörte zum bíos theoretikós. Noch Hegel streicht die von Aristoteles hervorgehobene Nutzlosigkeit im Sinne der Selbstzweckhaftigkeit hervor und erklärt: "Verkehr mit der Philosophie ist als der Sonntag des Lebens anzusehen." (W 10, 411f) Dagegen bewegt sich das hier skizzierte Denken in unserem geschichtlichen Werktag und ist wesentlich experimentelles Denken. Indem alles durchs Nadelöhr der Tätigkeit im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse hindurch muss und Erkenntnistheorie zugleich "vor allem Sprachkritik sein" soll (21, 413; XX, 140), bildet es eine offene Philosophie der Praxis. Sie ist keine Philosophie der vorgängigen Einheit oder der Totalität. "Tatsächlich kann man sich eine Totalität nur bauen, machen, zusammenstellen, und man sollte das in aller Offenheit tun, aber nach einem Plan und zu einem bestimmten Zweck." (21, 535) Das Ganze der Philosophie der Praxis erbaut sich von unten nach oben, zeigend, wozu es nützt. Sie ist daher zugleich das konsequenteste Denken der Diesseitigkeit. Wie der Pragmatist William James "Tatsachen und Werte als untrennbar" begriffen hat (Putnam, 11 u.ö.), so denken auch Gramsci und Brecht die politisch-ethische Dimension von unten nach oben, wenn man so will, anders als die Moralphilosophen, die mit Ausnahme Epikurs zumeist in mehr oder weniger verschämter Weise ein normatives Jenseits verkünden, ein Sittengesetz vor jeder Gesetzgebung und ohne die "politischen" Umstände einer solchen. Gramsci und Brecht führen vor, dass die Alternative nicht Monismus oder Dualismus[53] heißt. Die Postmoderne hat sich, wie Fredric Jameson (1998) gezeigt hat, viele ihrer Gedanken ohne Nennung der Herkunft angeeignet, kaum je ohne Beschädigung des Sinns. Auch bei Derrida bildet der Angriff auf Dualitäten ein Grundmotiv. Doch führt dies bei ihm, wie Hilary Putnam sagt, "in eine Art Weltverlust, einen Verlust des 'Außerhalb des Textes'. Dagegen hat James immer darauf beharrt, "dass wir eine gemeinsame Welt teilen und wahrnehmen, dass 'wir die Wahrheit, bei deren Erschaffung wir mithelfen, erfassen'" (Putnam 1995, 30f). Bei Gramsci und Brecht wird aus dieser gemeinsamen Welt im Allgemeinen die besondere gesellschaftliche Welt mit ihren Antagonismen und ihren Naturverhältnissen, in denen wir leben. Und in den Praxishorizont rückt die Vergesellschaftung. So schlägt der Pragmatismus um in marxistische Philosophie der Praxis. Wenn Heidegger sagt: "auch das wesentliche Denken ist ein Handeln" (Was ist Metaphysik, 50), so könnte Brecht das für das eingreifende Denken mit gewissen Ergänzungen und Einschränkungen annehmen. Denker-Hybris, falsche Selbsterhöhung eines Intellektuellen, spricht aber aus Heideggers Satz: "So ist das Denken ein Tun, aber ein Tun, das zugleich alle Praxis übertrifft." (Humanismusbrief, 115) Und doch ist das an der Wende zum 21. Jahrhundert en vogue, während Brecht für veraltet erklärt wird. Eine Reflexion Brechts aus der Zeit der Faschisierung Deutschlands trifft bei aller Andersartigkeit der Verhältnisse etwas von diesem fin de siècle: "In den Zeiten der Schwäche fehlt es oft nicht an richtigen Leitsätzen, sondern an einem einzigen. Von der Lehre passt ein Satz zum anderen, aber welcher passt zum Augenblick? Es ist alles da, aber alles ist zuviel. Es fehlt nicht an Vorschlägen, aber es werden zu viele verfolgt. Es fehlt nicht an Wahrnehmungen, aber sie werden rasch vergessen. In den Zeiten der Schwäche ist man engagiert, und man engagiert sich nicht. / In den Zeiten der Schwäche / ist vieles wahr, aber es ist gleich wahr; ist viel nötig und kann weniges geschehen; der Ausgeschaltete ist in Ruhe versetzt und hat keine Ruhe." (GA 21, 585) 39 Zur Zitierweise: Bei Brecht sind die Bände der Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe in arabischen, die der Gesammelten Werke von 1968 (Frankfurt/M) in römischen Ziffern angegeben. Die Zitate aus Gramscis Gefängnisheften folgen der kritischen Gesamtausgabe (Hamburg 1991-1999); sie werden durch Heftnummer und Paragraph nachgewiesen, bei längeren Paragraphen zusätzlich durch die Seitenzahl. 40 Foucault wird die "Künste der Existenz" (1986a, 18; 1986b, 60) ohne den brechtschen Kontext ins Zentrum seiner neuen Ethik stellen. In der Einleitung zur amerikanischen Ausgabe des Anti-Ödipus von Gilles Deleuze und Felix Guattari, den er als "Ethik-Buch" begreift, gliedert er die Lebenskunst in ars erotica, ars theoretica, ars politica; in allen Bereichen antwortet sie auf "Fragen, die sich weniger darum drehen, warum dies oder jenes zu tun sei, als vielmehr darum, wie man weiterkommt." (Foucault 1978, 227) 41 Der Ausdruck coerenza mit dem Adjektiv coerente (vgl. etwa Heft 11, 12) ist für Gramscis Denken besonders wichtig. Damit ein Individuum Handlungsfähigkeit gewinnt, muss es ein gewisses Maß an Kohärenz erreichen usw. Früheren Übersetzungen ging dieser Zusammenhang verloren. Sie gaben etwa derivato coerente ("kohärentes Derivat" -- vgl. Heft 11, 50) mit "organisch abgeleitetes Prinzip" wieder (Bochmann), weil der Term nicht als von Gramsci spezifisch akzentuiert erkannt wurde; statt "kohärente Begriffe" hieß es "systematisch miteinander verbundene Begriffe" (Bochmann) bzw. "in sich geschlossene systematische Anschauungen" (Zamis#umgekehrtes ' aufs s#). 42 Im Original: "accolte senza beneficio d'inventario". Die Redeweise ist der Sprache des Erbrechts entnommen. Die "Rechtswohltat des Inventars" meint, dass man die Annahme einer Erbschaft von einem zunächst zu erstellenden Inventars abhängig machen kann. 43 Vgl. den Artikel Ausdruck in Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1. 44 hygiaínomen ... hygieía, De anima, 414 a 7; Gesundes wird >durch die Gesundheit< gesund gemacht (práttetai), EN, 1129 a 15. 45 Unter diesem Namen wird die These von Aaron Antonovsky aus Tel Aviv vorgetragen (vgl. den Bericht von Claus Peter Müller in der FAZ vom 21. Januar 1994). 46 Vgl. das letzte Kapitel in: Haug 1996, "Was spricht gegen den Moralismus?" 47 Im Original: "natura", entsprechend übersetzt Anneheide Aschieri-Osterlow mit "Natur"; Labriola variiert hier jedoch die 6. Feuerbachthese, wo Marx vom menschlichen "Wesen" spricht was im Italienischen mit "natura" wiedergegeben wird (so auch in Gramscis Übersetzung; vgl. Gefängnishefte, Anm. 2b zu Heft 7, 35, Bd. 4, A393). 48 Bei Habermas (und vergröbert in seiner Schule) wird diese "ganzheitliche" Auffassung der Arbeit aufgegeben sein zugunsten der Schrumpfform von Arbeit als einer Art stummen und hinsichtlich der Zwecke inkompetenten produktiven Stoffwechsels mit der Natur. Er verwechselt ein gedankenloses Abbild fremdbestimmter Arbeit mit dem von Arbeit schlechthin. Dem ersten Teil der Deutschen Ideologie meint Habermas entnehmen zu können, "dass Marx" -- er vergisst Engels -- "nicht eigentlich den Zusammenhang von Interaktion und Arbeit expliziert, sondern unter dem unspezifischen Titel der gesellschaftlichen Praxis eins auf das andere reduziert, nämlich kommunikatives Handeln auf instrumentales zurückführt" (1968, 45). Für Marx gelte: "alles löst sich in die Selbstbewegung der Produktion auf" (46). -- Wie ein derart kluger Mann wie Habermas so an einem Text vorbeilesen kann, ist schwer verständlich. Im Theorieteil der Deutschen Ideologie (vgl. MEW 3, 30ff) legen Marx und Engels fünf "Seiten der sozialen Tätigkeit" oder "Seiten der ursprünglichen geschichtlichen Verhältnisse" auseinander, die ausdrücklich nicht als Stufen, sondern als Seiten oder Momente begriffen werden, "die vom Anbeginn der Geschichte an [...] zugleich existiert haben und sich noch heute [...] geltend machen" -- oder auch Verhältnisse, die "gleich von vornherein in die geschichtliche Entwicklung (eintreten)", also gleichursprünglich und keineswegs aufeinander reduzierbar sind: (1) Lebens- und Lebensmittelproduktion, (2) "Erzeugung neuer Bedürfnisse", (3) Familie ("im Anfange das einzige soziale Verhältnis", später ein untergeordnetes), (4) Gesellschaftlichkeit ("dass eine bestimmte Produktionsweise [...] stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens [...] vereinigt ist"), schließlich (5) Sprache ("Bewusstsein" wird als sprachlich artikuliertes Phänomen gefasst). So tastend diese Bestimmungen noch sind, sind sie doch dem von Habermas referierten Reduktionismus diametral entgegengesetzt. 49 "Es handelt sich selbstverständlich nicht um eine Liquidierung des Interesses an der Kausalität; im Gegenteil sind diese Fragen, soweit ich das beurteilen kann, auch in der Physik, gerade bei solchen Bemühungen aufgetaucht, die eine tiefer gehende Meisterung der Kausalität bezwecken, als sie bisher möglich schien. [...] Die Headlines der wissenschaftlichen Boulevards: 'Die Kausalität aufgegeben!' sind Unsinn. Man ist lediglich bei einer neuen Definition der Kausalität angelangt." (22.1, 395; XV, 279) Es folgen Passagen, in denen Brecht sich in Richtung auf einen feldtheoretischen Kausalitätsbegriff, bezogen aufs Gesellschaftliche (Individuum und Masse), vorantastet. 50 Riechers, der diesen Verstoß gegen den philosophischen Materialismus nicht fassen konnte, setzte 1967 dafür "historisch Objektives" (siehe auch die folgende Fußnote). Für die auf deutsche Übersetzungen angewiesene Gramsci-Rezeption war also Gramscis von der ersten Feuerbachthese ausgehende Umwälzung der materialistischen Erkenntnistheorie verstellt. 51 Riechers 1967: "universell objektiv". 52 Wichtig ist Rudolf Carnaps Gedanke von der Aufhebung einfacher Prädikationen in "Relationssätze" (vgl. 1932, 16-19), der jedoch dadurch umfunktioniert wird, dass er in den Rahmen der geschichtsmaterialistischen Praxisauffassung eingefügt wird. -- Ulrich Sautter hat solche Einflüsse sorgfältig belegt, wobei er diese bisher oft verdrängte Wahrheit zu weit in die entgegengesetzte Richtung zurückbiegt, wenn es sich ihm "geradezu aufdrängt, von einer spezifisch brechtschen Variante des Logischen Empirismus zu sprechen" (1995, 688), und er von "zahlreichen ästhetischen Neuorientierungen Brechts aus den dreißiger und vierziger Jahren" meint, dass "sie konzipiert waren: als ein zusätzlicher Zweig am Unternehmen der wissenschaftlichen Philosophie" (709). Das unterschätzt die eigenständige Anverwandlung und Umfunktionierung durch Brecht. Aber Sautter hat zweifellos recht mit der Feststellung, dass durch den Nazismus und vollends durch den Kalten Krieg eine höchst fruchtbare Begegnung zwischen marxistischem Denken und dem vor allem von den Fortschritten der Physik inspirierten Denken des Wiener Kreises von beiden Seiten abgebrochen worden ist, dass es nur am beidseitigen Konformitätsdruck und der Bereitschaft, ihm zu entsprechen, gelegen habe, dass sich der logische Empirismus ins Akademische zurückgezogen habe. 53 Fast immer missverstanden worden ist Gramscis Einsicht, dass auch die "Auffassung von der 'Objektivität der Außenwelt'" dualistisch ist (vgl. H. 10, 41.I, 1304). [zurück] -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- |