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Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Dreizehnte Vorlesung . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . 17
Unausweichlichkeit von Interpretation
/ Hermes, der Warengott, und die Hermeneutik
/ Gadamers konservative Interpretationstheorie / Befugte Inter preten
vs. die »Genossen Unbefugten« / Hermeneutische Unterstellung
und liberale
»Bedeutungsgemeinschaft« / Vergesellschaftungsrelevanz des
Interpretierens /
Etwas als etwas Anderes interpretieren / Das Problem der Popu larisierung
/
Relikte traditioneller Philosophensprache / Die Rede vom »Logischen«
/
Mehrfachartikulationen / Interpretatorische Entscheidungsnotwendigkeit
/
Falsche Verallgemeinerung / Gegenübertreibung als Fehlerquelle /
Handwerk
und Politik der Interpretation
Exkurs: Abstraktion, ›Unsichtbarkeit‹
und Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
Vierzehnte Vorlesung . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . 41
Darstellungsfolge und genetische
Rekonstruktion / Struktur und Werden /
Eine »täglich vor unsren Augen« spielende Geschichte
/ Genetische Abfolge
von der Ware zum Geld / Vom Wertausdruck zum Austauschprozess /
Wertausdruck Preis als erste Geldfunktion / Bewegungsform eines Widerspruchs
/ Eine Grenze der praxeologischen Begründung / Warum »Metamorphose
der Ware«? / Ware und Geldware als komplementärer Gegensatz
/
Spaltung des Austauschs nach Raum, Zeit, Akteuren / Warum folgt jetzt
der
Geldumlauf? / Politisch-ökonomischer Blick von oben / Staat, Münze,
Papiergeld
/ Die »bloß funktionelle Existenzweise« des Geldes /
Geld als prekärer
Repräsentant von Waren
Fünfzehnte Vorlesung . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . 57
Was heißt »Personifi
kation ökonomischer Kategorien«? / Das einschränkende
»Soweit« / Personifi kation als poetisches Verfahren / Rolle
und Charaktermaske
/ Verhalten und Verhältnisse / Tauschform ungleich Wertausdruck /
Komplementarität zweier einseitiger Akte / Zersetzung des Gemeinwesens
durch die Warenproduktion / Privatisierung als Vehikel individueller Emanzipation
/ Wechselseitige Anerkennung als Privateigentümer / Wiederaufnahme
der Determinationsfrage / Variable Charaktermasken bei konstanter Personifi
kation / »Gesellschaftliche Dinge« müssen personifi ziert
werden / Struk turen
als Subjekt? / Die Frage nach der tätigen Vermittlung
Sechzehnte Vorlesung . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . 72
Was meint »Geld als Geld«?
/ Schatzbildung / Zahlungsmittel / Gläubiger und
Schuldner / Kreditgeld und Geldkrisen / Weltgeld vs. Währungen /
»Marché
universel« und »universelle Arbeit« / Es gibt nicht
die eine methodologische
Formel / Übergänge als Zusammenhangsprobe / Genetische Reihe
und wachsende
Komplexität / Von der »Grundform« zur »abgeleiteten
Form« / Ausgangspunkt,
»historisch und begriffl ich« / Können abgeleitete Formen
vor der
Grundform auftreten? / »Das Umgekehrte der Reihe der historischen
Entwicklung
« / »Logisches« vs. »Historisches« / Hegels
Dialektik ist nicht die
von Marx / »Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten« / Analyse,
Synthese
und Genesis bei Aristoteles / Geld als Geld und Geld als Kapital / Die
Frage
nach dem Übergang vom Geld zum Kapital / Darstellungsfolge vs. Historische
Dominanzfolge / Genesis vs. Genealogie / Komplementarität von Entstehungs-
und Wirkungszusammenhang
Siebzehnte Vorlesung . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . 95
Plurale Determination und »faustischer
Selbstwiderspruch« / Personifi kation
als Abstraktion / Vergleichende Zirkulationsformanalyse / »Sinn
und Verstand
« – formspezifi sch / Vermittlungskategorien: bestimmender
Zweck
und treibendes Motiv / Geld als bestimmender Zweck kennt keine Grenze
/
Schatzbildner und absoluter Bereicherungstrieb / Kapitalist zu sein ist
ein realisandum
/ Komplementarität von treibendem Motiv und Konkurrenz / Feldstruktur
und Einzelfall / Divergente Handlungen – konvergente Erfahrung /
Regulierendes Resultat als Determinationsparadigma
Exkurs über »Selbstorganisation«.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 107
Achtzehnte Vorlesung . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . 110
Eine Rechnung, die niemals aufgeht
/ Theorie der Krisenhaftigkeit von Anfang
an / Das Drama des Durchschnitts / Bewegungsform des planlosen Plans /
Wertgesetz als regulierendes Resultat / Ungesellschaftliche Vergesellschaftung
/
Blind-reaktive Oszillation / Eine Einheit, die sich selbst negiert / Die
»allgemeine
Möglichkeit der Handelskrisen« / »Monetäre Krisentheorie«
/ Monetäre
Korrosion der Sozialordnung
Neunzehnte Vorlesung . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . 121
Der Lohnarbeiter als Personifi kation von Arbeitskraft
/ Doppelte Artikulation
der Fabrik / Das Wogegen und das Woraufhin der marxschen Perspektive /
Wertbestimmung der Ware Arbeitskraft / Reproduktion der Arbeits kraft
und ihrer
Reproduktionsmittel / Der »Tageswert der Arbeitskraft« / Zirkulationsform
der Ware Arbeitskraft / Gleichgültigkeit vs. Produzentenstolz / Zeitlohn
als scheinhafter Ausgangspunkt / Disziplinierende Freiheit des Stücklohns
/
Lohnsenkung durch Konkurrenz, Solidarisierung dagegen / Zwei entgegengesetzte
Täuschungseffekte / Ambivalenz der Fabrikarbeit / Das Fabrikregime
/
Subalternität vs. kollektives Machenkönnen / Doppelcharakter
der kapitalistischen
Leitungsfunktion
Exkurs: Das Geschlecht der Arbeiterklasse
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Zwanzigste Vorlesung . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . 146
Grundbegriffe der Analyse des Verwertungsprozesses
/ Wertbildung und
Wertübertragung / Konstantes und variables Kapital / Ein bewegtes
Spiel flexibler
Momente / Marx prägt diese Begriffe, er ›entdeckt‹ sie
nicht / Notwendige
Arbeit vs. Mehrarbeit / Mehrwertrate vs. Profi trate / Reine Analyse /
Kontrafaktische
Vereinfachung und laboratoriumshafte Reinkultur / Ausklammerung
der Konkurrenz / »Idealer Durchschnitt« vs. »Idealtypus«
/ Analytik
des Verwertungsprozesses / Woraus resultiert die Mehrarbeitszeit? / Klassenkampf
um die Länge des Arbeitstags / Das Erkämpfte dauert nicht ohne
weitere
Kämpfe
Einundzwanzigste Vorlesung . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . 161
Grenzen der marxschen Darstellung
der Lohnarbeit / Das Paradigma der
Dampfmaschine / Technische Zusammensetzung der Fabrikarbeiterschaft /
Spätfolgen des Verelendungsdiskurses / Anfängliche Unterbietungskonkurrenz
der Arbeiter / Selbstorganisation als Lernprozess / »Verschlingung
[…]
ins Netz des Weltmarkts« / Wissenschaft als »unmittelbare
Produktivkraft« /
Der Computer war für Marx noch unvorstellbar / Von der Gratis-Wissenschaft
zur Lohnforschung / Schnittstellen zur Analyse des High-Tech-Kapitalismus
/
Technologische Arbeitslosigkeit / Die Arbeitslosen als »Nicht-Käufer«
Exkurs: Formen des ›Verschwindens
der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
Zweiundzwanzigste Vorlesung . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . 179
Eine Anti-Episteme / Doppelsinn von
Spekulation / Handel »in Abwesenheit
der Ware« / Erwartetes Herdenverhalten als Kursfaktor / »Differenzgeschäfte«
und »fi ktives Kapital« / Spekulation und Kapital-Überproduktion
/ »Die Krisen
sind unvorhersehbar« / Ein objektiv unerkennbares Erkenntnisobjekt?
/
»Strategische Interdependenz der Akteure« / Wertpapiere als
Waren, die keine
Produkte sind / Feldverhalten und Objektivitätsbezüge / Handeln,
das ins
Objekt fällt / Neoliberale Ideologisierung / Hayeks Institutionen-Darwinismus
/ Das Subjekt-Objekt der Börse sind erwartete Erwartungen / Zwischen
Gewinnverlangen und Verlustangst / Unrealisierbarkeit des fi ktiven Kapitals
im Ganzen / Verwertung als Selbstzweck schlägt um in Wertvernichtung
Exkurs: Der erste Weltbörsenkrach
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . 197
Dreiundzwanzigste Vorlesung . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . 201
Transitorische Notwendigkeit des
Kapitalismus / Worin besteht die
kapitalspezifische Krisenhaftigkeit? / Absoluter vs. relativer Mehrwert
/ »Permanente
Revolutionierung des Produktionsprozesses« / Reproduktion als Produktionsbedingung
/ Einfache Reproduktion des Kapitals als kontrafaktisches Modell /
Verbergende Vermittlungen / Lohnarbeiter reproduzieren immer nur ihre
Ausgangslage / Statt der Einzelakteure die Klassen / Ein der Warenproduktion
fremder Maßstab? / Methodischer Individualismus verfehlt den Kapitalismus
/
»Ein dem Zirkulationsprozess angehöriger Schein« / Erweiterte
Reproduk tion
und faustischer Konfl ikt / Zwanghafter Produktivismus: Akkumulation als
Selbstzweck / Gesellschaftliche Reproduktion nie Kapitalzweck / Verschiebung
der Krisen durch ihre Bekämpfung
Vierundzwanzigste Vorlesung . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . 217
Arbeit als Kreuzungspunkt der gesellschaftlichen
Verhältnisse / Eine Gesellschaft,
die sich nicht »um die Sonne der Arbeit dreht« / Daseinsweisen
der
Arbeit / Geld repräsentiert Arbeit als abwesende / Der bestimmende
Gegensatz
des Arbeitsprozesses / Produktive vs. unproduktive Arbeit / Widerspruch
zwischen Profi tquelle und Kostenfaktor / Produktivkraftentwicklung als
»Kriegsmittel« gegen die Arbeiter / Kombiniertes Arbeitspersonal
und Welt-
Gesamtarbeiter / Drama des Durchschnitts und Weltmarkt / »Chinesische
Löhne« / Hochtechnologische Arbeitslosigkeit und Billigarbeit
/ Wachsende
Kluft zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit / Schwinden der Lohnarbeit
bei
Zunahme ungetaner Arbeit / Ein Zusammenbruch, der nie zu Potte kommt?
/
Das Theorem des tendenziellen Falls der Profi trate / Entgegenwirkende
Ursachen
/ Eine Frage »geschichtlicher Tat« der kommenden Generationen
Anhang
Die Bedeutung von Standpunkt und
sozialistischer Perspektive
für die Kritik der politischen Ökonomie (1972) . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Fragestellung / I. Die sozialistische
Perspektive im ›Kapital‹ und ihre
Bedeutung für die Theorie bildung / II. Standpunkt / III. Bestimmte
Negation
Zitierte oder erwähnte Literatur
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . 260
Namensregister . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . 269
Weitere Veröffentlichungen von
W. F. Haug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . 271
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Vorwort
»Die Zeit der Krise ist […] zugleich die der
theoretischen Untersuchungen.«
Marx an Lassalle, 23.1.1855
I.
»Die Gefahr dauert für gewöhnlich länger als die
Flucht«, lässt Brecht
seinen Me-ti sagen. Nie zuvor herrschte der Kapitalismus auf dieser
Erde so uneingeschränkt wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Das kritische
Wissen über sein Funktionieren und die von ihm ausgehenden
Bedrohungen aber scheint zuletzt in eben dem Maße geschwunden zu
sein, in dem er sich vollends über den Globus ausgebreitet hat.
Gegen diesen Trend tragen die folgenden Vorlesungen dazu bei, das
marxsche Kapital als dasjenige theoretische Werk zu erschließen,
das
einzigartig die Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung erklärt.
Sie
führen zugleich in das ein, was ich Sozioanalyse genannt habe.[1]
Ihrer
Ausarbeitung für den Druck lagen die Notizen zur im Winter 1999 auf
2000 an der Freien Universität Berlin gehaltenen Vorlesung zugrunde.
Wenn Sigmund Freud die Vorlesungsform seiner Neuen Folge der Vorlesungen
zur Einführung in die Psychoanalyse »eine Vorspiegelung der
Phantasie« nennen konnte, so gilt dies für das vorliegende
Buch allenfalls
insofern, als die schriftlich ausgearbeitete Form etwas anderes ist
als das an konkrete Menschen gerichtete lebendige Wort. Zwischenbemerkungen
und Antworten auf Fragen und Einwände fi nden bei der
Schriftform ihren Platz in Fußnoten und Exkursen. Dennoch hoffe
ich
mit Freud sagen zu können, dass die Fiktion, »wenn ich mich
während
der nachfolgenden Ausführungen wieder in den Hörsaal versetze«,
mitgeholfen hat, »bei der Vertiefung in den Gegenstand die Rücksicht
auf die Lesenden nicht zu vergessen«.[2]
II.
Einer ersten Folge im Abstand von mehr als dreißig Jahren Neue Vorlesungen
nachzuschicken, wird schwerlich den Verdacht wecken, dem
Zeitgeist Tribut zu zollen. Doch wird man fragen, wie sich die beiden
Bücher zueinander verhalten.
Die erste Folge entwickelte an Marx’ Wertformanalyse, diesem zu
allen Zeiten als schwierig befundenen Eingang ins Kapital, Zeile um
Zeile die elementaren begriffl ichen Werkzeuge einer Lektüre, die
zugleich
refl ektiert, was sie tut. Dabei herrschte das Schneckentempo,
das dem Versuch angemessen war, den Übergang vom Alltagsdenken
zur Theorie zu vollziehen.
Die Neuen Vorlesungen setzen voraus, dass diese Anfangsschwierigkeiten
des ersten Kapitels überwunden sind. Sie bewegen sich am
Leitfaden theoretischer Grundfragen durch die übrigen Kapitel des
ersten Bandes des Kapital.
Die Lektüre, die im folgenden praktiziert wird, beschränkt sich
mit wenigen Ausnahmen auf Kapital I und muss selbst hier selektiv
verfahren. Doch der schrittweise entwickelte Interpretationsrahmen
beansprucht, für den Gesamtkomplex der marxschen Kritik der politischen
Ökonomie zu gelten. Wie die erste Folge soll auch die neue die
Kapital-Lektüre nicht ersetzen, sondern unterstützen. Gebaut
wird
auf selbständige Lektüre. Vor der fertigen Lehre rangiert deren
Verfertigung.
Im Mittelpunkt steht die Rekonstruktion der theoretischen
Produktions weise von Marx. Man wird sehen, dass dies gar nicht anders
möglich ist, als en passant einen ganzen Satz philosophischer Grundfragen
neu aufzurollen: unter anderem Fragen der Hermeneutik, eines
nicht metaphysischen Gesetzesbegriffs, eines Objektivitätsbegriffs,
der die Subjekte umfasst, wie eines Subjektbegriffs, der die Determinationen
durch die Verhältnisse nicht einfach voraussetzt, sondern als
tätig vermittelte Resultate durchsichtig macht. Nicht zuletzt wird
es
darum gehen, den durch die Lohnform kolonisierten Kontinent der
Arbeit und das kapitalistische Drama derselben zu erkunden.
Die marxsche Ökonomiekritik wird von Freund wie Feind zumeist
für objektivistisch und deterministisch gehalten. Dagegen wird hier
gezeigt werden, dass sie den Feuerbach-Thesen, diesem Gründungstext
einer geschichtsmaterialistischen Philosophie der Praxis, nicht nur
nicht widerspricht, sondern einzig in deren Licht rational verstanden
werden kann. Umgekehrt würde jede Philosophie der Praxis ohne Kritik
der politischen Ökonomie ins Luftreich der Spekulation abheben.
Ferner soll der marxsche Text auf die praktischen und theoretischen
Belange der Gegenwart hin gelesen werden. Gefragt ist eine Interpretation
›nach vorn‹, keine rückwärtsgewandte Hermeneutik.
Die Brauchbarkeit
der marxschen Theorie hängt davon ab, dass sie sich auch an
den nachmarxschen Problemen und im Lichte der seither entwickelten
Denkmittel bewährt. Eine Kritik der politischen Ökonomie, die
nichts
zum transnationalen High-Tech-Kapitalismus, zu dessen Krisen und
zu den praktisch-politischen Auseinandersetzungen in diesem zu sagen
hätte, wäre eine Sache der Vergangenheit.
Auf drei Problemfronten – die ebensoviele Konfl iktfronten in
Sachen Kapital-Lektüre sind – konzentrieren sich die Neuen
Vorlesungen
vor allem: Erstens auf die Epistemologie des Kapital, wie sie
sich in der kategorialen Abfolge der Darstellung äußert; zweitens
auf
die Frage nach den Determinationen im Verhältnis von Praxis und
ökonomischer Struktur am Beispiel des marxschen Begriffs der Personifi
kation, der an den Gestalten Kapitalist und Lohnarbeiter entfaltet
wird; drittens auf die Frage nach dem krisenhaften Strukturprozess des
Kapitalismus, der nach dem Muster des regulierenden Resultats oder
resultierenden Gesetzes aus einem Ungleichgewicht reaktiv ins entgegengesetzte
fällt, und von seinen beiden fundamentalen Widersprüchen,[3]
der permanenten Reduktion der Arbeit, von deren Verwertung er zehrt, sowie
der gegen gesellschaftliche Zwecke verselbständigten Akkumulation
um der Akkumulation willen, zur Kapitalvernichtung und an seine historische
Grenze getrieben wird.
III.
Anders als die erste Folge richten die Neuen Vorlesungen den Blick
über die Textgrenzen hinaus auf andere Schriften von Marx und Engels
sowie auf Sekundärliteratur. Um der Tatsache Rechnung zu tragen,
dass Band 23 der Marx-Engels-Werke (MEW) den Text in der von
Engels hergestellten Fassung der 4. Aufl age darbietet und zumeist undeklarierte
ungleichzeitige Überarbeitungsschichten enthält, ziehen
wir frühere Aufl agen und vor allem die von Marx verantwortete französische
Übersetzung zu Rate. Andere Texte werden in dem Maße einbezogen,
in dem sie rezeptionsleitend für Kapital-Lektüren geworden
sind, an denen sich Schulen etabliert haben. Gleich, wie man zu diesen
Texten und den aus ihnen abgeleiteten Deutungsmustern steht, sollen
sie zumindest nicht bewusstlos wirken. Besonders einfl ussreich wurde
das Methodenkapitel der marxschen Einleitung zu den Grundrissen
(1857), ein in der Tat grundlegender Text, während Engels’
Rezension
von Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), die das Schlagwort
der »logischen Methode« geliefert hat, eher taktisch-rhetorisch
angelegt
ist.
Mehr oder weniger überholt vom wirklichen Vorgehen im Kapital,
haben solche Entwurfs- oder Kommentartexte dazu verleitet, »die
›Wahrheit‹ des Kapital in den vorausgegangenen Fassungen«
zu suchen
(Bidet 2004, 10). Einige Interpreten behaupten unter Berufung auf eine
Briefstelle eine, wie im Falle Platons, ungeschriebene oder sogar »versteckte
« eigentliche Lehre von Marx.[4] Die Auseinandersetzung mit
solchen und anders kontrastierenden Interpretationen wird zumeist in
den Fußnoten geführt. Die dort verzeichneten exemplarischen
Sichtweisen
können zur Refl exion der eigenen Position genutzt werden.
Zum Teil legen sie eine Spur zu weiterführender Literatur. Sie können
unbesorgt zunächst überlesen und erst in einem späteren
Durchgang
zu Rate gezogen werden.
Danksagung
Zu danken habe ich Thomas Marxhausen, meinem ersten Leser und
Lektor, Thomas Pappritz, meinem zweiten, der auch die Zitate überprüft
hat, Christof Ohm, Frigga Haug und Charly Götze; sie alle haben
mich vor Fehlern bewahrt und hilfreiche Anstöße gegeben.
Zur Zitierweise
Marx und Engels werden zumeist nach der Werke-Ausgabe des Dietzverlags
(MEW) zitiert, und zwar so, dass auf die Bandnummer ein
Schrägstrich und darauf die Seitenzahl folgt (23/11 würde also
Das
Kapital, Buch I, MEW 23, S. 11 bedeuten). Nur gelegentlich zitiere ich
nach der Marx-Engels-Gesamtausgabe, was an der alten Orthographie
sowie daran erkennbar ist, dass die Bandnummer mit einer römischen
Ziffer beginnt (II.5/20 würde mithin Das Kapital, Buch I, erste Auflage,
MEGA II.5, S. 20 bedeuten). Zitiert werden ferner vor allem die
Kapital-Bücher II (MEW 24) und III (MEW 25) sowie die Theorien
über den Mehrwert (MEW 26.1, 26.2 und 26.3) und die sog. Grundrisse
(MEW 42).
Rückverweise auf die ersten zwölf Vorlesungen beziehen sich
auf
deren Neufassung von 2005. Sie geben in lateinischen Ziffern die
Nummer der Vorlesung an und, durch einen Punkt getrennt, in arabischen
Ziffern, den dort in der Kopfzeile Seite um Seite spezifi zierten
Gegenstand (VII.9 würde mithin die neunte Seite der siebten Vorlesung
bezeichnen).
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[1] Die Form, in der die Akteure (nicht nur)
im Kapitalismus bewusst tätig sind, ist in
aller Regel nicht Gegenstand ihrer Tätigkeit, ihr Bewusstsein also
Bewusstsein-in-der-
Form, nicht notwendig Bewusstsein der Form. Wie die Psychoanalyse umfasst
auch die
Sozioanalyse der Praxen das Nichtintendierte. Sie schaut den Akteuren
gleichsam über
die Schulter auf das, was jene hinterrücks bedingt. Vgl. die Notizen
in Haug 2003a, 14,
sowie in der ersten Folge der Vorlesungen (1974/2005, VIII.4).
[2] Vgl. Freud, Studienausgabe, I, 449.
[3] Wie schon Benedetto Croce die marxsche
Werttheorie auf einen »elliptischen Vergleich« reduzierte
(1921, 32; vgl. Gramsci, Gefängnishefte, H. 7, §42), gesteht
Karl Korsch in den 1930er Jahren einem solchen Begriff von »Widersprüchen«
nur mehr den Status eines »tiefe Zusammenhänge erleuchtenden
Gleichnisses« zu (1932, GA 5, 550). Widerspruch in diesem Sinn existiert
für ihn nicht als solcher, »sondern nur durch eine symbolisch
abgekürzte oder aus anderen Gründen missverständliche Ausdrucksweise
vorgetäuscht«. Der »Gegner der Rede vom Widerspruch in
einem als strenge Wissenschaft auftretenden begriffl ichen Ableitungszusammenhang«
muss sich mit diesem Status trösten, solange es noch nicht mathematisch
befriedigend klappt (549). Sein mit Brecht geteiltes Interesse am logischen
Empirismus des Wiener Kreises (vgl. Haug 1999) zieht ihn schließlich,
anders als Brecht, ins Lager des Logischen Empirismus, eine Entwicklung,
die sich 1932 erst andeutet: »Die logisch und empirisch einwandfreie
Klärung all dieser und noch einer Reihe anderer, in der Dialektik
bis heute ungeprüft verwendeter Begriffe ist eine der wichtigsten
Zukunftsaufgaben der an Marx anknüpfenden sozialistisch-proletarischen
Wissenschaft.« (550)
[4] Helmut Reichelt leitet die Neuaufl age
seines Buches von 1970 mit dem Zitat aus
einem Brief vom 9. Dezember 1861 ein, worin Marx an Engels schreibt, die
Fortsetzung
von Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), gehe voran, »aber
langsam«
(Ms 61-63, das gediehen war bis Heft V, vgl. MEGA II.3.1), und werde »viel
populärer
und die Methode viel mehr versteckt« sein (30/207). Die Briefstelle
gilt Reichelt forthin
als Tatsachenfeststellung übers Kapital. Hier habe Marx die Methode
»versteckt« (7).
Die Versteckthese stützt sich darauf, dass »Marx auch noch
in der zweiten Aufl age des
Kapitals methodologische Passagen ersatzlos gestrichen« habe (8).
Dass Marx im Nachwort
solche Passagen neu eingeführt hat und zum Verständnis seiner
»dialektischen
Methode« auf den Unterschied von Forschung und Darstellung verweist
sowie seine
Dialektik auffassung umreißt (»jede gewordne Form im Flusse
der Bewegung« aufzufassen
usw.) (23/27f), unterschlägt Reichelt. Dass die Dialektikauffassung
des im forschenden
Lernen vorbildlichen Marx in dem Jahrzehnt bis zur zweiten deutschen Auflage
von Kapital I Fortschritte gemacht haben könnte, ist für den
an Hegel haftenden
Reichelt unvorstellbar. Vgl. dazu meinen Versuch über »Marx’
Lernprozess« (2005,
223- 35). |